Dokumentale’24: The Making of a Japanese

Ein Jahr lang begleitete Regisseurin Ema Ryan Yamazaki für den Dokumentarfilm The Making of a Japanese die 1. Und 6. Klasse einer Tokioter Grundschule. Mitten in der Covid-Pandemie im Jahr 2021 begegnen Schüler*innen Herausforderungen, Enttäuschungen und Erfolgserlebnissen – nicht nur eng verbunden mit akademischen Leistungen, sondern auch anderen lebensvorbereitenden Aufgaben. Durch Zuständigkeitsbereiche, die auf den ersten Blick weniger mit einem klassischen Schulcurriculum zu tun haben, werden bereits Sechsjährige auf ihre Teilhabe in der japanischen Gesellschaft vorbereitet. Dazu gehören Haushaltsaufgaben wie Putzen und Essensausgabe ebenso wie das Erlernen von respektvoller Teamarbeit, in der das eigene Ego weit hintenansteht. ___STEADY_PAYWALL___

Das Ringen um die Rolle von schulischer Erziehung für die Vorbereitung auf verschiedene Bereiche des (Erwachsenen-)Lebens ist spätestens seit Naina K.s viralem Tweet aus dem Jahr 2015 auch in Deutschland angekommen: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“, schrieb die Schülerin damals online. Soll und muss Schulbildung über Textanalyse, Periodensysteme und Geographie-Kenntnisse hinausgehen und auch auf die Dinge des Alltags wie z. B. finanzielle Absicherung, Ernährungsfragen und Haushaltsführung eingehen?

So erscheint als eröffne das japanische Schulsystem, wie es in The Making of a Japanese nah betrachtet wird, Kindern Wege, die z. B. auch in Deutschland gleichermaßen auf Interesse bei Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern stoßen würden. Doch der Film der japanisch-britischen Dokumentarfilmerin Yamazaki offenbart auch, dass diese breit gefächerte Annäherung an Bildung und Erziehung an klare Regeln und einem auffälligen Maß an Strenge gebunden ist: Jeder Schulranzen hat sein zugewiesenes Fach, in das er passen muss, jeder Schuh vor der Türe muss gerade geordnet stehen und beim Mittagessen am Platz wird nicht miteinander geredet. Disziplin ist das Schlagwort. 

© Autolook Filmsales

Yamazakis Film ist von herausfordernden Fragen geprägt: Ist diese Strenge, die Kindern Spaß zu rauben scheint, gerechtfertigt, wenn sie doch aber auf ein Leben als Teil der Gemeinschaft vorbereitet werden? Oder ist dieses absolute Beharren auf diszipliniertem Verhalten und Gemeinschaftssinn, das Ende aller Individualität und Kreativität, und treibt am Ende alle, die aus dem Rahmen fallen, in die Isolation? Wie nahe stehen sich Erfolgserlebnisse und Demütigung als Konsequenz von strengen und klar abgesteckten Regeln? Kann und soll Schulerziehung auf diese Art funktionieren? Angetrieben von diesen Gedanken schildert The Making of a Japanese ein Schulsystem zwischen Enthusiasmus der Kindheit und den Anforderungen eines streng vorgegebenen Weges in die Selbstständigkeit des Erwachsenenlebens. 

Ähnlich wie Schüler*innen sich leise und ordentlich verhalten sollen, ist auch das Lehrpersonal stark auf eine verständliche Vermittlung der Strenge und Einschränkungen fokussiert. Es gibt keinen lauten oder beleidigenden Umgang mit den Kindern in der Klasse, Bestrafungen finden nicht sichtbar statt. Schüler*innen finden im Lehrpersonal auch Gesprächspartner*innen, wenn es um Sorgen geht. Momente des Schimpfens und Tadels zeigen sich hingegen in immer wiederkehrenden, bis ins kleinste Detail gehenden Hinweisen zu Fehlverhalten. Dieses Beharren auf vorgebliche Fehler von Schüler*innen (sowohl im Bereich des Lernens als auch im Regeln befolgen) ist eine konstante Präsenz im anstrengenden Schulalltag.

Exemplarisch wird diese Verhandlung von Strenge durch den Lehrer Endo Sensei begleitet. Der Lehrer der 6. Klasse heißt seine Schüler*innen durch seine Seite als Spaßvogel willkommen, will am ersten Schultag spielerisch an das gemeinsame Jahr heranführen. Gleichzeitig gilt er unter Eltern als strenger Lehrer, der Kindern zur Strafe auch mal ihre Lern-Tablets wegnimmt. Endo Sensei erzählt, dass er selbst strenge Lehrer*innen hatte und glaubt, dass Kinder, ähnlich wie er, an dieser Strenge wachsen. Ein Kollege sagt ihm, dass er selbst nie sicher ist, ob er Schüler*innen zu sehr oder zu wenig maßregelt. Nur die Zukunft könne jeweils zeigen, ob Verbote von vornherein der beste Weg sind oder ob Kinder sich selbst ausprobieren und am Umgang mit eventuellen Konsequenzen wachsen sollten.

Eine Lehrerin beschreibt diesen Zustand wie der Gang auf einem Schwebebalken, bei dem die Freiheit der Schüler*innen und auferlegte Beschränkung ausbalanciert wird. Es ist ein Schulalltag zwischen Harmonie und Tadel wie auch Spaß und dem Antrieb immer besser sein zu wollen. Selbst am festlichen Sports Day ist die Freude an körperlicher Ertüchtigung durch den Ehrgeiz des Wettbewerbs geprägt. Die Vorbereitung einer neu erlernten Musikperformance zum fröhlichen Einläuten des neuen Schuljahres wird zur maximalen Belastung für die Erstklässlerin Ayame, die am Becken glänzen soll. Eine hohe Emotionalität aus Ehrgeiz, Überforderung, Freude, Spaß, Stress und Bekümmerung bestimmt den Schulalltag.

Yamazakis Dokumentarfilm zeigt, dass das Schuljahr und der Kampf mit der Balance emotional auch am Lehrpersonal nicht spurlos vorbeigehen: Als sie sich von der 1. Klasse zum Ende des Schuljahres verabschiedet, muss sich ihre Lehrerin kurz für einen Moment zurückziehen, um Tränen des Abschieds zu vergießen. Auch Endo Sensei kann die Tränen nicht zurückhalten, als er vor dem Kollegium auf die Strapazen des Schuljahres zurückblickt. Sein Kollege ist zu gerührt, um zu sprechen, als er seine 6. Klasse in das Ende der Schulzeit an der Grundschule entlässt. Er weiß, er wird die meisten von ihnen nie wieder sehen.

© Autolook Filmsales

Auch die gegenseitige Unterstützung der Kinder ist in diesem Schulsystem überraschend emotional. Da in der Aufteilung des Schulunterrichts private wie auch potenziell berufliche Räume Teil des Curriculums sind, wissen Schüler*innen nicht nur auf praktische Art einander zu Hilfe zu kommen. Ihre aufmerksame Art erlaubt es ihnen, gut zu erkennen, wenn ein Klassenmitglied überfordert, traurig oder erschöpft ist. Gegenseitig fangen sie sich mit Worten der Unterstützung, freundlichem Schulterklopfen und körperlicher Unterstützung (z. B. das Packen des Schulranzens eines Klassenmitglieds) auf. Eine Erstklässlerin beschreibt die Klassengemeinschaft als Herz, das nur schlagen kann, wenn alle Einzelteile mitarbeiten. Eine Metapher, die gleichermaßen auf die Wichtigkeit von engem Zusammenhalt einer Gruppe und den Druck des unbedingten Funktionierens des Individuums in allen Belangen hinweist.

Yamazaki und der Kameraführung von Kazuki Kakurai ist durch diese und viele ähnliche nahe Beobachtungen ein beeindruckendes Porträt einer japanischen Grundschule gelungen. Die Kamera wirkt wie eine Präsenz, die den Kindern gar nicht auffällt bzw. sie in keinem Maß zu stören scheint. So ist The Making of a Japanese charakterisiert durch lange Einstellungen in Klassenräumen, die sich nah auf Schüler*innen und die in ihren Gesichtern gespiegelten emotionalen Reaktionen konzentrieren, durch dynamische Sequenzen auf Schulfluren und dem Schulhof oder durch kurze Aufenthalte bei Kindern zu Hause im Kreis ihrer Familie beim Online-Unterricht. Interviews finden nur, und selbst dann eher zwischen Tür und Angel als in längeren Gesprächssessions, mit dem Lehrpersonal statt. 

Durch diese Nähe ist The Making of a Japanese überraschend offen in seinem Umgang mit dem Schwebebalken des japanischen Grundschulsystems, auf das er sich begibt. Denn Richten über falsch und richtig, die Vor- und Nachteile des Umgangs mit Schüler*innen, den Druck der auf Kindern wie Lehrpersonal lastet und die vorbereitende wie maßregelnde Rolle von Schulerziehung für Individuen als Teil einer Gesellschaft will Yamazakis Dokumentarfilm nicht. Vielmehr ist der Blick der Regisseurin auf das japanische Bildungssystem von einem Hin- und Herschwingen geprägt, dass eine Realität einfängt, die auch keine klaren Antworten auf den einen richtigen Weg der Schulerziehung weiß. Was The Making of a Japanese durch seine Beobachtungen aber postuliert, ist, dass durch das Verhandeln von Verantwortung, Erfolge und Enttäuschungen für Einzelpersonen eng verbunden sind.

The Making of a Japanese war im Mai 2024 als Deutschlandpremiere bei der Nippon Connection zu sehen. Die Summer-Preview der Dokumentale’24 zeigt den Dokumentarfilm am 18. Juli als Berlinpremiere.

Sabrina Vetter