Capernaum – Stadt der Hoffnung

von Sophie Charlotte Rieger

Wo ist die Hoffnung, wenn ein Zwölfjähriger seine Eltern dafür verklagt, von ihnen geboren worden zu sein? Wenn eine überforderte Mutter ihr Kleinkind ankettet, damit dieses sie nicht beim Drogenkochen stört? Wenn eine Mutter an ihrem Arbeitsplatz heimlich das Kind auf der Toilette versteckt und dort stillt?

Die libanesische Regisseurin Nadine Labaki begibt sich in ihrem Spielfilm in die Lebenswelt von Menschen am Rande der Gesellschaft ihres Landes, Menschen ohne Pass, ohne Einkommen, ohne jedwede Form sozialer Unterstützung. Dabei widmet sie sich vornehmlich der Geschichte des zwölfjährigen Zain (Zain Al Rafera), der – nachdem seine nur elfjährige Schwester zwangsverheiratet wurde – das verwahrloste Elternhaus verlässt und in der Hütte von Rahil (Yordanos Shiferaw) nicht nur eine neue Bleibe, sondern auch erstmalig eine Mutterfigur findet. Doch das Glück ist nicht von langer Dauer, denn eines Tages ist Rahil verschwunden und Zain mit ihrem Baby Yonas auf sich allein gestellt.

All das erzählt Capernaum in der Rückschau. Es ist die Geschichte, mit der Zain in der Rahmenhandlung dem Richter seine Klage gegen die Eltern erklärt, die Geschichte, die erklären soll, weshalb er schon seine Existenz als Unrecht empfindet und weshalb er einen „Hurensohn“, wie der Junge es selbst formuliert, mit einem Messer attackiert hat.

© Alamode

Vom Gerichtssaal ausgehend wirft Labaki ihr Publikum nun im Rückblick mitten hinein in das Chaos von Zains Familienalltag, in dem so viele augenscheinlich vernachlässigte Kinder durcheinanderwuseln, dass es tatsächlich unmöglich ist, ihre Anzahl zu ermessen. Die Handkamera, die den jungen Protagonisten stets auf Augenhöhe begleitet, macht es uns dabei nicht unbedingt leichter, einen Überblick über Setting und Handlung zu erlangen. Erst nach und nach begreifen wir was wir sehen, können wir einordnen, wenn auch nicht zwingend „verstehen“, was die Menschen auf der Leinwand tun.

Dabei sind die Gefühle von Ruhelosigkeit und Desorientierung ein Blick in das Innenleben der Hauptfigur. Auch wenn Zain für sein Alter überaus erwachsen und weitsichtig agiert, seine Schwester in Schutz nimmt und im späteren Verlauf des Films für Yonas die Verantwortung übernimmt, so ist all das freilich für ein Kind seines Alters eine maximale Überforderung. Es ist also nur konsequent von Nadine Labaki, auch ihr Publikum gehörig herauszufordern.

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Das tut die Filmemacherin nicht nur stilistisch, zumal das anfängliche Chaos schließlich einer zunehmend ruhigen und übersichtlichen Erzählung Platz macht. Auch moralisch verweigert Labaki ihrem Publikum das Schonprogramm. Zu einfach wäre es, Zains Eltern zu verurteilen, sie als grausam und lieblos zu charakterisieren, als Bösewicht_innen, die wir verachten können. Stattdessen zwingt uns die Regisseurin immer wieder, in Souad (Kawthar Al Haddad) und Selim (Fadi Kamel Youssef) Menschen zu sehen, die nicht aus Böswilligkeit, sondern durch eigene Traumata, Marginalisierung und Diskriminierung an diesen Punkt ihres Lebens gelangt sind. Denn Capernaum – Stadt der Hoffnung geht es nicht darum, einzelne Übeltäter_innen auszumachen und zu denunzieren. Zains Klage gegen seine Eltern ist nur ein Symbol, eine Art Parabel für den Aufschrei gegen klassistische Strukturen, insbesondere die Situation von Geflüchteten und anderen Menschen ohne (gültige) Papiere im Libanon. Denn es sind eben jene Strukturen, die die zahlreichen Formen von Missbrauch und Gewalt ermöglichen, die Nadine Labaki in ihrem Film sichtbar macht.

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Ein wenig einfach macht sie es sich dann aber doch, denn die Botschaft von himmelschreiender Ungerechtigkeit lässt sich mit niedlichen Kindern, wie es Zain und Yonas sind, eben vortrefflich vermitteln. Reichen der dreckige Zwölf- und weinende Einjährige nicht, so hilft die Musikuntermalung gerne dabei, uns die emotionale Daumenschraube anzulegen: Mitleid bitte, am Besten mit ordentlich Tränen untermalt. Die Art und Weise wie Labaki uns geradezu zwingt, ihre Figuren pausenlos zu bedauern, hat etwas Verstörendes, der Blick auf deren Not etwas Beschämendes. Dies wiegt umso schwerer, als dass die auf der Straße gecasteten Darsteller_innen über einen ähnlichen Hintergrund verfügen wie ihre Rollen, viele als geflüchtete oder doch zumindest migrierte Menschen ohne (gültige) Papiere im Libanon leben, während die Regisseurin aus einer privilegierten Perspektive auf diesen Teil der Gesellschaft blickt.

Erst ganz zum Schluss, wenn sich Zain als Anrufer bei einer Fernsehsendung mit seiner Geschichte erstmalig Gehör verschafft, entsteht ein kleiner Moment der Emanzipation, der jedoch durch das zwangsläufige Scheitern des Gerichtsverfahrens schließlich wieder unterminiert wird. Rahil wiederum erhält keinerlei Möglichkeiten, sich zu ermächtigen. Alle Wege in die Freiheit sind ihr verbaut. Und so können die mini-kleinen Glücksmomente am Ende des Films reichlich wenig daran ändern, dass es in Capernaum vieles gibt, aber sicher keine Hoffnung.

Kinostart: 17. Januar 2019

Sophie Charlotte Rieger
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