Berlinale 2019: The Kindness of Strangers
von Sophie Charlotte Rieger
Ein sozial isolierter Ex-Häftling, der neu anfangen will. Eine Krankenschwester, die sich mit ihren ehrenamtlichen Tätigkeiten vollständig auslaugt. Ein junger Mann*, der mit seinem Job auch die Wohnung verliert. Eine Mutter, die mit zwei kleinen Söhnen vor ihrem sadistischen Ehemann flieht.
Das klingt nach einem dramatischen Plot, der die Schlechtigkeit der Welt und der Menschen betont, ein Kinopublikum zutiefst betrübt und bestenfalls mit einem tränenreichen Happy Ending in Watte packt. Doch Lone Scherfigs The Kindness of Strangers, der Eröffnungsfilm der Berlinale 2019, bricht mit diesen Erwartungen, sowie der Film grundsätzlich immer ein bisschen an dem vorbeischrammt, was wir aus den klassischen Narrativen des Kinos gewohnt sind.
So auch gleich zu Beginn des Films, wenn Marc (Tahar Rahim) mit seinem Anwalt John Peter (Jay Baruchel) in einem russischen Restaurant auf die wiedergewonnene Freiheit anstößt. Als er die Rechnung begleichen möchte, platzt der junge Mann* versehentlich in eine Besprechung des Besitzers Timofey (Bill Nighy) mit russischen Investoren hinein. Wird sich Marc gleich wieder in neue kriminelle Aktivitäten verwickeln? Bestimmt handelt es sich um mafiöse Strukturen, die von der Bedürftigkeit des ehemaligen Häftlings profitieren. Doch nichts dergleichen. Stattdessen handelt es sich um ausnehmend freundliche und hilfsbereite Menschen, die Marc einen Job als Restaurantchef anbieten.
Der Bruch mit unseren Erwartungen an den Verlauf dieser kleinen Szene erzeugt einen sanften absurden Humor – ein dramaturgischer Handgriff, der sich durch den gesamten Film ziehen wird. Wann immer wir lachen, tun wir das – oft ohne es zu merken – über uns selbst. Oder anders gesagt: Ohne unsere stereotypen Erwartungen an die Figuren und ihre Handlungen würde ein Großteil der Komik in The Kindness of Strangers gar nicht funktionieren. Statt ihre Figuren komödiantisch vorzuführen, hält Lone Scherfig dem Publikum still und leise den Spiegel vor – nicht mit bösartiger Absicht, sondern mit spürbarer Liebe und Respekt. Die Güte im Titel ist auch die Devise ihrer Regie.
So wie Marc treffen auch alle weiteren Hauptfiguren in Momenten der Not auf Nächstenliebe, werden füreinander von Hilfesuchenden zu Hilfegebenden. Ihre Geschichten stellen keine unerträglichen Abwärtsspiralen dar, denen das Publikum innerlich schmerzverzerrt zuschauen muss. Die emotionale Rührung entsteht also nicht über die Negativ-Emotion Mitleid, die – wie schon das Wort verrät – ein Leid voraussetzt, sondern über tröstende Rührung: Es gibt das Gute in der Welt. Es gibt das Gute im Menschen.
The Kindness of Strangers erinnert mit seiner Botschaft der Nächstenliebe, der Streichmusik und einer oft märchenhaft schwebenden Kamera an einen Weihnachtsfilm. Das Faszinierende dabei ist, dass trotz dieser positiven Haltung des Films die angesprochenen Probleme niemals zu Bagatellen verkommen. So ist beispielsweise Obdachlosigkeit ein zentrales und vor allem ernstes Thema von Scherfigs Erzählung. Als Jeff (Caleb Landry Jones) erst einen Job nach dem anderen und dann seine Wohnung verliert, droht er auf der Straße zu erfrieren. Auch Alice (Zoe Kazan) ist mit ihren zwei kleinen Kindern im tiefsten Winter ohne Obdach. Dass alle diese schwere Zeit durch die selbstlose Hilfe anderer Menschen überleben, soll die Realität obdachloser Menschen nicht schönreden. Vielmehr kann The Kindness of Strangers eine Botschaft der Verantwortlichkeit formulieren, indem sich der Film eben weniger auf das Leid an sich und mehr auf Kraft helfender Hände konzentriert.
Bedürftigkeit ist keine Schande. Es ist weder eine Schande um Hilfe zu bitten, noch sie in Anspruch zu nehmen. Keine_r kann immer stark sein, nicht einmal Krankenschwester Alice (Andrea Riseborough), die sich in der knappen Freizeit noch verschiedentlich ehrenamtlich engagiert. Auch sie gelangt an einen Punkt der Erschöpfung, an dem sie ihre Batterien mit der Nächstenliebe anderer aufladen muss. Und indem Lone Scherfig kein Mitleid für die strauchelnden Figuren erzeugt, sondern ausschließlich Mitgefühl, lässt sie ihnen ihre Würde. Die Filmemacherin hat keine Freude daran, die Protagonist_innen nur der Dramatik wegen leiden zu lassen, und verzichtet auf die im Hollywoodkino sehr beliebte emotionale Daumenschraube, die dem Publikum auch noch die letzte Träne abringt. Die Welt da draußen ist hart und frostig, so ihre Botschaft, aber sie ist auch voller Menschen, die sie erwärmen. Und was sagt es eigentlich über uns und unsere Narrative aus, dass diese Tatsache für uns in The Kindness of Strangers immer wieder so überraschend kommt?
Mehrfach steuert Lone Scherfig zielgerade auf tradierte Plot Points zu, wie ein Auto, das mit erhöhter Geschwindigkeit direkt auf ein Hindernis zurast, und manövriert ihre Geschichte dann doch um Zehntelmillimeter an der Katastrophe vorbei. Ähnlich verhält es sich mit der immens subtilen Komik, die immer wieder angedeutet und doch niemals ausgekostet wird, sowie auch der Tonfall der Erzählung anhaltend zwischen bitterem Realismus und hoffnungsvollem Märchen oszilliert. Die Konsequenz, mit der die Regisseurin diesen filmischen Balanceakt vollzieht, ist genial. Lone Scherfig belässt ihr Publikum in einem Stadium permanenter Irritation darüber, dass hier alles ein bisschen anders ist als erwartet und doch irgendwie vertraut. Sie zieht uns mit sympathischen Figuren und deren sich verdichtender Geschichte in ihren Bann, ohne uns kathartische Tränenbäche zu gewähren.
Immer ein bisschen neben der ausgefahrenen Spur, ist The Kindness of Strangers ein Film, auf den wir uns einlassen müssen. Dazu gehört auch eine Prise Mut, denn die fehlende Dramatisierung der Ereignisse macht es uns schwerer, sie als filmische Illusion abzutun. Wir müssen uns also nicht nur der unbequemen Wahrheit stellen, dass auch in unserer Stadt Menschen auf der Straße schlafen oder von Familienangehörigen misshandelt werden. Wir müssen uns vor allem auch der unbequemen Wahrheit stellen, dass wir selbst bedürftig sind, dass auch wir auf The Kindness of Strangers angewiesen sind. Und dass wir deshalb auch in der Verantwortung stehen, der Bedürftigkeit anderer mit Güte und Hilfsbereitschaft zu begegnen.
Screenings bei der Berlinale 2019
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