Atlantics (Atlantique)
Schwermütige Verliebte und die Geister ihrer Vermissten. Dazwischen der Atlantik — mal still, mal tosend. Atlantics von Regisseurin Mati Diop verbindet übernatürliche Elemente mit der Sehnsucht einer adoleszenten Frau, ohne das Publikum in seiner Dramatik mit Fantasyelementen zu überfordern.
Die junge Ada (Mama Bineta Sane) ist verliebt in den Arbeiter Suleiman (Ibrahima Traore), doch in 10 Tagen soll sie den reichen Geschäftsmann Omar heiraten. Auf den ersten Blick eine klassische Liebesgeschichte. Bis eine Gruppe von Männern, darunter Adas heimlicher Angebeteter, ohne Vorankündigung Dakar mit einem Boot Richtung Europa verlässt. Die Freundinnen der Geflohenen blicken wehmütig auf den weiten Horizont des Atlantiks. Es bedarf keiner Erklärungen.
Ada ergibt sich ihrem Schicksal.
Unmittelbar vor der Hochzeitsnacht jedoch geht das Bett der frisch Vermählten in Flammen auf. Ein Kommissar, der von seltsamen wiederkehrenden Schwächeanfällen gequält ist, beginnt mit seinen Ermittlungen. Durch ihn erfahren wir auch von einem verunglückten Boot. Gleichzeitig ergreift einige Frauen ein heftiges Fieber. Mysteriös. Eines Nachts besuchen eben diese Frauen jenen Bauherren, für den die geflohenen Männer drei Monate unbezahlt gearbeitet hatten. Als scheinbar übernatürlich besetzte Wesen mit pupillenlosen Augen drängen sie nach ihrem Gehalt. Nicht zuletzt durch ihre tiefen Stimmen wird klar: Die Geister der Verunglückten sind zurückgekehrt und sprechen durch die Körper der Frauen. Inmitten dieser Geschehnisse gelingt es Suleimans Geist, Kontakt mit Ada aufzunehmen. Ada verlässt ihren Mann, um eine zärtliche Liebesnacht mit Suleiman – bzw. seinem Geist, der vom Körper des Kommissars Besitz ergreift, zu verbringen.
In Atlantics kehren Geflohene als Geister wieder, um sich ihren ungelösten Konflikten neu zu stellen. Die übernatürliche Ebene des Films eröffnet den Figuren Handlungsmöglichkeiten, die nur durch die Aufhebung hierarchischer Ordnungen und Machtgefüge der realen Welt umgesetzt werden können. Denn die Männer wagen es nur als Geister, sich an ihrem Arbeitgeber zu rächen und Gerechtigkeit einzufordern, ihr ausstehendes Gehalt zu verlangen.
Außerdem visualisiert die Verschmelzung der weiblichen Figuren mit den Geistern der Männer die Utopie eines Zusammenhalts, der Geschlechtergrenzen transzendiert und Solidarität markiert. Schließlich gelingt es den Protagonist:innen erst gemeinsam, Gerechtigkeit einzufordern. Der Chef wird von den Männern zwar für ihr Schicksal verantwortlich gemacht, doch trägt nicht allein er die Schuld an ihrer Flucht. Seine Ungerechtigkeit ist lediglich die Spitze eines Eisbergs, dem eine sozial stark gespaltene Gesellschaft zugrunde liegt. Eindeutige Ursachen oder Motivationsgründe für die Flucht zu finden, erklärt sich der Film nicht zum Ziel.
Auch Adas Freundinnen sprechen nicht über Beweggründe. Die Protagonistin selbst redet überhaupt nicht viel, wenn, dann meist über Suleiman. Außer vor ihren Eltern. Diese sprechen mit ihr nur über Omar: Ada sollte sich über den durch die Heirat ermöglichten sozialen Aufstieg freuen. Die Generationen sind sichtbar durch Tradition und Religion gespalten. Ada wagt es nicht, ihre innere Revolte verbal zu artikulieren, nicht einmal gegenüber den Freundinnen – sie denkt sich aber ihren Teil. Leider erfahren wir über ihre Sehnsucht nach Suleiman hinaus nichts über die Träume der weiblichen Hauptfigur. Möchte Ada in die Welt hinaus, Neues lernen, einen eigenen Beruf ergreifen?
Lediglich das Ende macht Hoffnung, dass Ada eigene Wege findet, die sich abseits von ungewollten Hochzeiten und unerfüllten Liebessehnsüchten ergeben. Denn der finale Blick der Protagonistin in die Kamera scheint einem emanzipatorischen Wachwerden gleichzukommen. Sie hat selbst entschieden, mit wem sie ihre erste sexuelle Erfahrung teilt. Und wie es nun weitergeht, liegt von diesem Moment an in ihrer Hand.
Die oftmals träumerische Musik von Fatima Al Qadiri verleiht dem Film eine märchenhafte Note, die einerseits im Kontrast zur prekären Lebenssituation der Figuren steht und andererseits einen emotionalen Zugang zu ihrer Geschichte ermöglicht. Auch die hellen, beinahe vergilbten Farben der Straßen und Häuser Dakars schmiegen sich mit Aufnahmen von Mond und Wasser ans Auge. Durch ihr ruhiges Tempo gelingt den Filmbildern ein angenehmer Sog. Die Kamera fängt die Gesichter, allen voran Adas, oft aus der Nähe ein, nimmt die Körper aber genauso häufig in weiten Aufnahmen mit deren Umgebung auf: sei es im Schlafzimmer, in der Bar, am Strand, auf Baustellen und Straßen. Dieser Wechsel zwischen engem und weitem Fokus, zwischen Privatheit und Öffentlichkeit spiegelt das Wechselspiel aus Unterdrückung und Freiheit wider, dem die Figuren unterworfen sind.
Der Cast, darunter auch Laiendarsteller:innen, überzeugt durch die Arbeit mit unterschiedlichen energetischen Zuständen, allen voran Mama Bineta Sane, die gerade aus der subtilen Darstellung von Adas emotionalen Höhen und Tiefen große Stärke entwickelt. Diop gelingt es, Übernatürlichkeit mit Sozialkritik zu verbinden. Mit dem Auftauchen der besessenen Frauenkörper kippt Atlantics nicht in eine Zombiegeschichte, in der Emotionen von Effekten abgelöst würden, sondern spinnt seinen Erzählstil weiter und verzichtet auf Effektszenen ebenso wie auf verzerrte Stimmen und große Gesten. Diese geschickte Verschränkung ist stimmig. Atlantics war dieses Jahr also nicht umsonst für die Goldene Palme nominiert und gewann zu Recht bei den Filmfestspielen in Cannes den Großen Preis der Jury.
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