American Factory

In aktuellen Analysen des globalen Kapitalismus wird allzu oft das Ende des Industrieproletariats – also der Gruppe der Fabrikarbeiter:innen, die in der marxistischen Analyse die revolutionäre Arbeiter:innenklasse ausmachten – verkündet. Entgegen diesem Trend rücken die Filmemacher:innen Julia Reichert und Steven Bognar in ihrem Dokumentarfilm American Factory die Arbeiter:innen einer Fabrik in Ohio in den Fokus. Unterstützt werden sie dabei von niemand geringerem als den Obamas, die einen Produktionsdeal mit Netflix eingegangen sind.

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Der sogenannte Rostgürtel, das älteste Industriegebiet der USA, hat seit der Finanzkrise 2009 die höchste Arbeitslosenquote des Landes. Krise, Strukturwandel und Globalisierung trugen dazu bei, dass Tausende ihre Jobs in der Industrie verloren. Auch das General-Motors-Werk in Dayton, Ohio schloss. Einige hundert der gekündigten Arbieter:innen interviewten Reichert und Bognar für ihren Dokumentarfilm The Last Truck: Closing of a GM Plant. American Factory knüpft an diesen Film an. Über drei Jahre, von 2015 bis 2017, begleiteten die Filmemacher:innen die Neueröffnung der Fabrik durch den chinesischen Autoglashersteller Fuyao.

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American Factory portraitiert Arbeiter:innen in der Fabrik, bei der Raucher:innenpause und zu Hause. Die Filmemacher:innen stammen selbst aus der Region und haben bereits mit den Arbeiter:innen des GM-Werks gearbeitet. Sie genießen das Vertrauen der Arbeiter:innen, die offen über ihren sozialen Abstieg und die Erleichterung über die neuen Arbeitsplätze sprechen. Fuyao gibt ihnen Hoffnung, wieder in die Mittelschicht aufzusteigen. Doch die Löhne betragen nicht einmal die Hälfte dessen, was GM gezahlt hat, die Arbeitsbedingungen sind schlecht und der Druck hoch.

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Reichert und Bognar lassen ihre Protagonist:innen für sich sprechen. Eine Kommentierung oder Einordnung ihrerseits erfolgt nicht. Nicht nur aufgrund ihres bisherigen Werks wird den Zuschauer:innen dennoch klar, auf wessen Seite die Filmemacher:innen in American Factory stehen. In den intimen Portraits der Arbeiter:innen schwingt Verständnis für deren Sorgen mit, während die Mitglieder der Geschäftsführung nicht als Sympathieträger:innen auftreten: Ihre Ablehnung einer gewerkschaftlichen Organisierung und abfällige Kommentare über die Beschäftigten äußern sie völlig unverhohlen vor laufender Kamera.

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Fuyao gewährte den Filmemacher:innen umfassenden Zugang. American Factory begleitet einige amerikanische Vorarbeiter zu einer Dienstreise nach China, wo sie und mit ihnen die Zuschauer:innen eine geradezu absurde Zuspitzung kapitalistischer Verwertung erleben. Die Darbietungen der chinesischen Beschäftigten auf der Firmenneujahrsfeier inklusive Hochzeitszeremonie bewegen sich noch auf dem schmalen Grat zwischen Belustigung und Entsetzen über die Entkoppelung von Arbeit und Freizeit. Spätestens bei den Schilderungen von 12-Stunden-Tagen und Sechs-Tage-Wochen, sowie Witzen darüber, dass man den Amerikaner:innen für eine höhere Produktivität den Mund zukleben sollte, bleibt einer das Lachen jedoch im Halse stecken. Schade ist, dass der Konflikt zwischen Arbeiter:innen und Arbeitgeber:innen zu oft auf die kulturellen Unterschiede zwischen auf Effizienz gedrillten Chines:innen und faulen Amerikaner:innen bezogen wird.

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Allerdings leistet American Factory großartige Arbeit in der Dokumentation des sogenannten Union Bustings, bei dem eine gewerkschaftliche Vertretung systematisch bekämpft wird. Der Film zeigt, wie Vorgesetzte ihre Belegschaft bespitzeln lassen und Befürworter:innen der Gewerkschaft entlassen. Am schwarzen Brett und in Mitarbeiter:innenversammlungen wird Stimmung gegen die Gewerkschaft gemacht. Reichert und Bognar halten ihren Zuschauer:innen vor Augen, wie übel im Kapitalismus Menschen ausgebeutet werden. Ein System, das darauf ausgelegt ist, Profite zu maximieren, nimmt keine Rücksicht auf Menschen. Für die Profiteur:innen ist der Gewinn wichtiger als die (soziale) Sicherheit der Personen, die diesen erwirtschaften.

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Bis zum Schluss halten sie die Spannung aufrecht, ob es den Arbeiter:innen gelingt, sich gewerkschaftlich zu organisieren und für ihre Rechte zu kämpfen. American Factory ist in seiner Zuspitzung unterhaltsam. Politisch brisant wird er nicht allein durch die Thematisierung der sozialen Frage. Bisher gelang es Trump die Sehnsucht der “Abgehängten” im Rostgürtel anzusprechen. Dass die Obamas im Rahmen ihrer Netflix-Kooperation als erstes American Factory präsentieren und damit der Bevölkerungsschicht der Arbeiter:innen eine (politische) Alternative bieten, kann als Angriff auf den aktuellen US-Präsidenten gewertet werden.

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Doch auch außerhalb der USA ist der Einblick in die Geschäftspraktiken des internationalen Konzerns Fuyao relevant. Nach eigenen Angaben hat der Autoglashersteller einen Marktanteil von 25 Prozent, er beliefert einen Großteil der relevanten Automobilkonzerne. Reichert und Bognar wählen ein Beispiel aus ihrem direkten Umfeld. Die Portraits der amerikanischen und chinesischen Arbeiter:innen ließen sich aber auch auf die deutschen Arbeiter:innen im ehemaligen SAM Werk beziehen, das Fuyao 2019 übernahm. Auf Netflix erreicht der Dokumentarfilm Zuschauer:innen in 190 Ländern, denen eins mit Marx zurufen möchte: Proletarier:innen aller Länder vereinigt euch!

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Der Film verleiht den Arbeiter:innen eine Stimme, zielt aber auf ein breites Publikum, das sich empören und mit den Arbeiter:innen solidarisieren soll. American Factory bleibt jedoch die Antwort schuldig, wie diese Solidarität aussehen kann. Auch die Obamas äußern in Interviews dazu nur, die Problemlage vor Ort sei komplex. Julia Reichert, die eigentlich als Sozialistin bekannt ist, zieht sich in die Rolle der Beobachterin zurück. Als Alternative zum Kapitalismus präsentiert American Factory lediglich den amerikanische Traum. Dieser stellt das kapitalistische System nicht in Frage, sondern verspricht nur Teilhabe für diejenigen, die sich hart genug anstrengen. Mit dem marxistischen Klassenkampf hat das nichts mehr zu tun.

Netflix: 21. August 2019

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