Viel Berg, wenig Substanz – Wie Everest am eigenen Sexismus scheitert
Dass sich mir beim Bergsteiger-Drama Everest die Fußnägel hochrollen und sich ein leichter, aber deutlicher Brechreiz einstellt, hängt nicht nur mit den Stereotypen, ja geradezu Abziehbildern zusammen, die hier anstelle von echten Charakteren verwendet werden. Auch sträubt sich in mir alles dabei, zu akzeptieren, immer wieder Geschichten über heterosexuelle weiße Männer auf der Leinwand zu sehen. Okay, ich räume ein, dass es in dieser wahren Geschichte nun mal um heterosexuelle weiße Männer geht. Aber es verhält sich hier ähnlich wie mit Angelina Jolies Unbroken: Warum die hundertste Geschichte tapferer Männer erzählen, anstatt eine wahre Begebenheit zu wählen, in der Frauen die Hauptrollen spielen? Gibt es denn nicht schon genug Bergsteigerdramen? Oder gibt es nicht vielleicht auch Bergsteigerdramen über Frauen?
Vor diesem Hintergrund erscheint Isabel Coixets müde belächelter Eröffnungsfilm der Berlinale, Nobody Wants the Night, in einem anderen Licht. Anstatt den männlichen Helden bei seiner Expedition zu begleiten, entscheidet sich Coixet für die Perspektive der zurückbleibenden Frauen und damit eine Sicht, die in nahezu jedem Bergsteigerdrama und insbesondere in Everest viel zu kurz kommt. In Letzterem ist das besonders hinsichtlich der fantastischen Besetzung mehr als nur bedauerlich. Keira Knightley darf immerhin kurz in die Kamera schluchzen, die überaus fantastische Robin Wright (ja, ich bin ein Fan) aber bekommt im Grunde keinerlei Chance, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Noch skandalöser gestaltet sich der Mini-Mini-Mini-Auftritt von Nymphomaniac 2 Shooting Star Mia Goth, die hier eine völlig austauschbare Bergsteiger-Tochter mimt.
Selbst aber wenn ich akzeptiere, dass eine Geschichte über Bergsteiger nun mal ihren Fokus auf die Bergsteiger und nicht auf ihre Frauen legt, stillt das nicht meine Wut. Die limitierte Auswahl an Identifikationsfiguren für das weibliche Publikum stimmt mich wirklich traurig.
Helen Wilton (Emily Watson) ist zwar die Managerin des Basis-Camps, wird aber explizit als „Mutterfigur“ eingeführt, wenn Expeditionsleiter Rob (Jason Clarke) ihre Funktion für die Bergsteiger_innen beschreibt. Natürlich verliert Helen vollkommen die Fassung, als Rob und seine Schützlinge auf dem Gipfel des Everest verloren gehen. Zum Glück ist der nächste starke Mann, Sam Worthington als Guy Cotter, nicht weit, um ihr zu Hilfe zu eilen.
Sowohl Jan (Keira Knightley) als auch Peach (Robin Wright) sind vornehmlich als Mütter und Ehefrauen charakterisiert. Obwohl Jan gleich zu Beginn des Films, wenn auch sehr freundlich und zurückhaltend, beanstandet, zurückgelassen zu werden und des Wartens müde zu sein, kann Everest Jan und Peach keine andere Rolle als die der Zurückgelassenen und Wartenden einräumen. Peach hat immerhin eine kleine Sternstunde, wenn sie alles in Bewegung setzt, um ihren sterbenden Ehemann per Helikopter vom Berg abzuholen. Jan wiederum motiviert den im Eis feststeckenden Rob, zu seiner Rettung noch die letzten Kräfte zu mobilisieren. Ergo: Diese Frauen existieren ausschließlich (!) für ihre Männer. Dabei ist die hochschwangere Jan übrigens die gesamte Zeit auf sich allein gestellt. Sie verfügt über keinerlei soziales Umfeld, dass sie in dieser Situation stützen würde.
Neben der weitgehend anonymen Camp-Ärztin, die keinerlei eigene Geschichte und somit auch keinen Charakter verliehen bekommt, bietet Everest nur noch zwei weitere Frauenfiguren an. Das ist zum einen die Journalistin, über die wir nur erfahren, dass sie netter anzusehen sei als der männliche Kollege (ja, das wird tatsächlich so ausgesprochen). Zum anderen ist da Yasuko Namba (Naoko Mori), die stellvertretend für alle Bergesteigerinnen dieser Welt stehen muss. Als einzige der Abenteuer_innen hat sie bereits sechs der sieben „Summits“ (die höchsten Berge der sieben Kontinente) bestiegen und zementiert damit die sexistische Logik unserer Welt, innerhalb derer Frauen stets mindestens das doppelte abverlangt wird, um auf der Stufe der Männer – in diesem Fall im Expeditionsteam auf dem Everest – anzukommen. Es ist wohl unnötig zu erwähnen, dass Yasuko ebenfalls vollkommen anonym bleibt und praktischer Weise als eine der ersten den Löffel abgibt. Frauen haben’s eben am Ende doch nicht drauf.
Schauen wir uns im Vergleich mal die Männer an: Doug (John Hawkes) gibt trotz offensichtlich unzureichender Konstitution alles, um auf den Gipfel zu gelangen. Damit möchte er Kinder motivieren, auch für scheinbar unerreichbare Ziele zu kämpfen. Ein echter Held eben. Rob und Scott (Jake Gyllenhaal) sind Profi-Bergsteiger. Während Rob die Rolle des Märtyrers einnimmt und für die Sicherheit seiner Schützlinge auch gerne das eigene Leben riskiert, handelt es sich bei Scott um den klassischen Draufgänger, der seine physischen Grenzen überschreitet, um uns (und sich) zu demonstrieren, was für gigantische Eier er hat (im übertragenen Sinne, natürlich). Und dann wäre da natürlich noch Beck (Josh Brolin), der liebenswerte Unsympath, der von den Toten aufersteht, um zu seiner geliebten Frau Peach zurückzukehren.
Unter den Protagonist_innen der Geschichte ist kein einziger Afroamerikaner, geschweige denn eine Afroamerikanerin. Die Sherpas, die eigentlichen Helden eines jeden Everest-Aufstiegs, bleiben vollkommen anonym und austauschbar. Rassistische Stereotypen wie der unkaputtbare Russe und die sich quirlig freuende Japanerin sind die einzige Abwechslung vom weißen, heterosexuellen Mann (obwohl der Russe streng genommen auch einer ist, aber ihr wisst schon worauf ich hinaus will). Von queeren Figuren will ich hier lieber gar nicht anfangen.
Eine derart limitierte, konservative Figurenauswahl und das Beharren auf vorgestrigen Geschlechterrollen hat eine ganz einfache Konsequenz: Everest ist langweilig. Trotz berauschender 3D-Aufnahmen des erhabenen Berges und dem dramaturgisch gekonnt inszenierten Todeskampf auf der Leinwand, lässt sich einfach keine Beziehung zu den Ereignissen aufbauen. Und wie auch? Für Frauen gibt es im Grunde keine einzige Identifikationsfigur und auch für Männer nur antike Abziehbilder, die jenseits eines runden Charakters rangieren.
Everest demonstriert (wie nach dem Lehrbuch, das ich eines Tages schreiben werde) das grandiose Scheitern eines Films am eigenen Sexismus.
Kinostart: 17. September 2015
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen, bringt mich der folgende Trailer übrigens tatsächlich zum Lachen:
- Irene von Alberti über Die geschützten Männer - 11. Dezember 2024
- Interview: Elizabeth Sankey über Witches - 25. November 2024
- FFHH 2024: Blindgänger - 2. Oktober 2024
guten Abend,
nicht böse sein, aber ich glaube, die Handlung war in dieser Form so zu erwarten – als Verfilmung einer literarischen Vorlage, die eine wahre Begebenheit am Berg beschreibt.
Ich denke, das beste wäre, solche Filme einfach links liegen zu lassen, wenn so ein Ärgernis zu erwarten ist.
LG
Ulrike
Liebe Ulrike,
ich bin nicht böse. Aber ein bisschen traurig, weil ich auf dieses erwartbare Gegenargument ja bereits ganz am Anfang eingehe und das Gefühl habe, dass Du den Text gar nicht richtig gelesen hast, bevor Du zur Kritik angehoben hast.
Und zum letzten Satz: Welchen Sinn hätte die feministische Filmkritik, wenn wir jene Filme, die uns ärgern, links liegen lassen? Es geht doch darum, Missstände aufzuzeigen, das Ungleichgewicht auf der Leinwand herauszustellen. Insbesondere in Blockbusterfilmen, weil die erstens am stärksten wahrgenommen werden, Artikel darüber also die größte Reichweite haben, und gleichzeitig durch ihr großes Publikum auch den größten Einfluss auf die Gesellschaft haben.
Ich hoffe sehr, dass Du meinen Blog trotzdem weiter verfolgst und danke Dir für Dein Feedback.
Liebe Grüße
Sophie
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