Unzertrennlich

Ein Jahr lang hat die Regisseurin Frauke Lodders für UNZERTRENNLICH fünf Geschwister behinderter oder lebensverkürzt erkrankter Menschen begleitet. Dabei hat sie Eindrücke aus deren Leben gesammelt und sie selbst, aber auch die Eltern zu Wort kommen lassen. Sentimentalität und Pathos, das zeigt der Film, haben im Alltag dieser Familien wenig Platz.

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© mindjazz pictures

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Die Protagonist_innen in UNZERTRENNLICH sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Gustafs Schwester kam mit mehreren medizinischen Problemen auf die Welt, kommuniziert in Gebärdensprache und benötigt nachts ein Beatmungsgerät. In Eymen und Erays Familie bestimmt die Trisomie 18 ihrer Schwester den Alltag. In Sveas Leben hinterließ das Bewusstsein der Sterblichkeit geliebter Menschen Spuren, als ihr jüngerer Bruder in der Pubertät an Lymphdrüsenkrebs erkrankte; auch nach der vollständigen Remission prägt diese Zeit ihr Familienverhältnis. Und Max schließlich hat das Leben seiner Schwester mit einer degenerativen Stoffwechselerkrankung bis zu deren Tod eng begleitet. Die Beeinträchtigungen der Geschwisterkinder sind sehr unterschiedlich in ihrer Entstehung, ihrer Prognose und auch darin, wie die Gesellschaft den Betroffenen begegnet – eine Krebserkrankung ist nicht nur medizinisch nicht mit einer Trisomie zu vergleichen, eine degenerative Stoffwechselerkrankung nicht mit dem Undine-Syndrom. Doch darum geht es Frauke Lodders auch nicht, wie schon der Untertitel des Filmes verrät. Ihr Thema ist allein, welche Auswirkungen die gesundheitliche Beeinträchtigung eines Kindes auf dessen Geschwister hat. Wie geht ein Kind damit um, dass das Geschwisterkind in der Familie eine Sonderstellung einnimmt, worunter leidet es, aber was gewinnt es vielleicht auch aus der familiären Nähe zu einem Menschen mit diesen Beeinträchtigungen?

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Frauke Lodders portraitiert die Menschen in ihren jeweiligen Lebenssituationen aufmerksam, die Kamera stets nah genug am Geschehen, um zu begleiten, doch nie aufdringlich. Zurückhaltend inszeniert sie den täglichen Umgang mit der Behinderung, der überstandenen Gefahr oder der Tatsache des Todes eines Familienmitglieds, dazwischen gibt sie den Geschwisterkindern und den Eltern in Einzelgesprächen Raum zum Erzählen. In diesen intimen Momenten finden die Familienmitglieder Worte für das, was im Alltag oft unausgesprochen bleibt; ihre Reflektionen aus dem Off geben den Bildern von gemeinsamen Mahlzeiten, Abendritualen und Haushaltsaufgaben eine emotionale Tiefe, die berührt und zugleich darlegt, dass das Leben mit Behinderung oder Krankheit auch ‚Normalität‘ ist.

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„Wenn man ein behindertes Kind wie ein behindertes Kind behandelt, wird es behindert. Wenn man es wie ein normales Kind behandelt, wird es ein normales Kind.“ Zu dieser pragmatischen Auffassung kommt Gustaf in UNZERTRENNLICH, der am Verantwortungsgefühl für die Schwester früher gereift ist als seine Altersgenossen. Tatsächlich haben wohl gerade Geschwister Vorbildcharakter, wenn es darum geht, behinderte Kinder als ‘normal’ zu behandeln. Der Gesellschaft gelingt dies in vielerlei Hinsicht bekanntlich nicht, doch auch die Beziehung der Eltern zum erkrankten oder behinderten Kind ist möglicherweise eine andere als die zu einem gesunden, nicht-behinderten Kind. Die medizinisch notwendige Fürsorge, elterliche Ängste oder zerschlagene Hoffnungen für die Zukunft des behinderten oder kranken Kindes rücken zu oft die Defizite in den Vordergrund. Zwischen Geschwistern ist jedoch wichtiger, wie sie sich als unterschiedliche Charaktere miteinander arrangieren und wie es ihnen gelingt, mit gesundem Egoismus und angemessener Rücksicht aufeinander, das Bedürfnis nach elterlicher Zuwendung zu stillen. Das gilt gemeinhin für alle Geschwister, ob mit Behinderung, Krankheit oder ohne.

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Besondere Behandlung wollen Gustaf, Eymen, Eray, Svea und Max nicht, das macht Frauke Lodders deutlich – weder im negativen wie im positiven Sinn. Eher möchten sie in ihrer ‚anderen Normalität‘ akzeptiert werden, wünschen sich, dass diese auch in der Gesellschaft als normal betrachtet wird. Unleugbar ist aber, dass das Leben mit einem behinderten oder erkrankten Geschwisterkind Einfluss auf ihre Entwicklung genommen hat und nimmt. So unterschiedlich die auch ‚Schattenkinder‘ genannten Geschwister sind, so individuell wirkt sich ihre Position in der Familienkonstellation auf ihr Denken und Handeln aus. Ob kritisch mit den Eltern, früh verantwortungsbewusst oder genügsam: Ohne das andere Kind, das die Aufmerksamkeit der Eltern stärker beansprucht, wären aus den Geschwistern nicht diese Menschen geworden. In UNZERTRENNLICH wird dank des Fokus auf die zwischenmenschliche Beziehung jedoch auch deutlich, wieviel stärker die Portraitierten von eben dieser Konstellation beeinflusst sind als von anderen Faktoren. So treten beispielsweise die unterschiedlichen Lebenskontexte von Eymen und Gustaf – Eymen in einer Familie mit Migrationshintergrund, Gustaf in einem Akademiker_innenhaushalt – etwa gegenüber ihrer gemeinsamen Abneigung dagegen, bei ihren eigenen Geburtstagsfeiern im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, deutlich in den Hintergrund. Es zeichnet den Film aus, dass die ‘Andersartigkeiten’, die oft gesellschaftlich eine Rolle spielen, hier hinter dem Erleben einer familiären Ausnahmesituation zurücktreten. Denn eines ist ihnen allen gemein, ein vielbeschworenes Lebensgefühl, das auch der Film hervorzurufen vermag, nämlich Dankbarkeit für die einfachen Dinge und kleinen Erfolge, für Gesundheit, Familie und den nächsten Tag im Leben.

DVD-Veröffentlichung: 29. Juni 2019

Leena M. Peters
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