Sexismus und Cannes – Palmen sind Männersache
Dieser Artikel erschien zuerst bei Moviepilot.de
Ich kann und will das einfach nicht glauben. Deshalb bin ich während meines Aufenthalts in Cannes den Dingen auf den Grund gegangen.
Die Quahl der Wahl – Das große Mysterium des Filmprogramms
Der erste Schritt meiner Recherche, die noch vor dem Abflug nach Cannes begann, war es den Auswahlprozess der offiziellen Selektion zu ergründen. Ich wollte wissen, wer denn eigentlich für die Zusammenstellung der Filme verantwortlich sei. Doch leider gab die Homepage des Festivals darüber keine Auskunft und auch die zuständige Pressebetreuung war mir keine große Hilfe. Wen ich auch fragte, ich wurde immer wieder an Programmdirektor Thierry Frémaux verwiesen, der doch aber unmöglich alleine diese umfangreiche Aufgabe bestreiten konnte. „Thierry Frémaux ist in der Tat die Person, die Ihre Fragen beantworten kann“, schrieb mir seine Assistentin. Doch nachdem ich Ihr mitgeteilt hatte, für welches Medium ich recherchierte, wurde schnell deutlich, dass ein Interview nicht in Frage käme. Aus Zeitgründen natürlich. Immerhin durfte ich Herrn Frémaux ein paar Fragen per Email stellen. Auf die Antwort warte ich bis heute.
Warum ist der Auswahlprozess ein derartiges Geheimnis? Gibt es wirklich eine Verschwörung, ein rein männliches Komitee, das selbstverliebt und heimlich Jahr für Jahr männlich dominierte Programme zusammenstellt? Die fehlende Transparenz an dieser Stelle lässt so etwas in jedem Fall vermuten.
Jenseits des Mainstreams – Wie Frauen uns filmisch herausfordern
Aber selbst wenn dem so wäre, ließen sich damit noch immer nicht alle Fragen beantworten. Das Problem ist doch eigentlich viel komplexer und weitreichender. Es geht hier nicht nur um den Mikrokosmus Cannes. Daher ist es sinnvoll, mal einen Schritt zurückzutreten und einen Blick auf das große Ganze der Populärkultur zu werfen. Sexismus ist – und das habe ich seit Anbeginn meiner Moviepilot-Kolumne immer wieder zu beweisen versucht – noch immer omnipräsent, in den meisten Fällen jedoch fast unsichtbar. Die großen emanzipatorischen Kriege wurden schon ausgefochten, sehr erfolgreich übrigens, aber unsere medialen Inhalte strotzen noch immer vor sexistischen Ideen und Bildern, die wir als solche in der Regel gar nicht erkennen. Auch im Film sind wir so stark an bestimmte Erzählstrukturen und den männlichen Blick gewöhnt, dass wir diese Elemente schlichtweg als „normal“ empfinden.
Während meiner Zeit in Cannes hatte ich die Gelegenheit verschiedene Filmemacherinnen zu interviewen. All diese Gespräche ergaben, dass sich die Frauen zwar nicht in der Verantwortung sahen, eine Kontraposition zum Mainstreamkino einzunehmen, dass sie es aber dennoch vorzogen, ihre Geschichten anders zu erzählen. Ein gutes Beispiel ist die kanadische Regisseurin Chloé Robichaud, die mit ihrem Spielfilm Sarah préfère la course in der Sektion „Un Certain Regard“ vertreten war. „Es gibt nicht viele Filme, in denen Frauen von Anfang bis Ende präsent sind“, sagte sie zu mir. „Sarah ist überall in meinem Film präsent. Und sie unterscheidet sich deutlich von anderen Frauen in Filmen. Es gibt keine Klischees von Weiblichkeit und sie ist eigentlich auch nicht richtig feminin.“
Mit den ungeschriebenen Regeln der filmischen Narration zu brechen, in dem ein Film um eine weibliche Heldin konstruiert wird oder vorherrschende Geschlechterrollen in Frage stellt, widerspricht unseren Sehgewohnheiten. Ein solcher Film kann auf uns in der Konsequenz nur „anders“, bestenfalls „besonders“ wirken. Die Homepage des Filmfestivals in Cannes jedoch beschreibt ihren Hauptwettbewerb als „Autorenkino für ein breites Publikum“. Die Kategorie „Un Certain Regard“ jedoch enthält laut der Webseite Filme mit einer „originellen Zielsetzung und Ästhetik“. Da sich weibliche Regisseurinnen offenbar vom Mainstream-Kino distanzieren, ist es kein Wunder, dass im Wettbewerb nur eine einzige Frau vertreten ist, während fast die Hälfte aller Beiträge zu „Un Certain Regard“ von weiblichen Regisseurinnen stammt. Es liegt doch auf der Hand: So lange das Kino von männlichen Filmemachern, männlichen Autoren und männlichen Produzenten dominiert wird, werden Filme von Frauen immer in gewisser Weise „originell“ wirken, statt wie von Herrn Frémaux offenbar erwünscht, ein breites Publikum anzusprechen.
Auf zu neuen Wegen – Warum Cannes eine Verantwortung hat
Wenn Thierry Frémaux sagt, dass sich das Sexismusproblem der Filmindustrie und der Kinokultur nicht in Cannes lösen lässt, hat er wahrscheinlich Recht. Die sexistischen Strukturen unserer Populärkultur zu erkennen und sich von ihnen zu lösen, ist ein langwieriger und schwieriger Prozess. Auch die Kommentare unter meiner Moviepilot-Kolumne zeigten regelmäßig, welch hohes Maß an Selbstreflektion und Aufmerksamkeit diese Entwicklung voraussetzt. „Jeder hat diese Vorstellung vom männlichen Künstler“, sagte die schwedische Regisseurin Ninja Thyberg in unserem Interview. „Es ist schwer zu sagen, woran das liegt, aber es zieht sich durch alle Ebenen unserer Gesellschaft.“ Als Beweis wies sie mich auf die Homepage der „Semaine de la Critique“, einer der Parallelsektionen des Festivals hin, in der ihr Kurzfilm Pleasure gezeigt wurde. Auf der offiziellen Webseite wird ein Preis ausgeschrieben, der den Gewinner – Achtung: Zitat! – mit „8.000 Euro für SEINEN ersten Spielfilm“ ausstattet.
Thierry Frémaux wird mit seiner Filmauswahl die Welt nicht von einem Tag auf den anderen verändern. Aber was er tun kann, ist seine eigene Wahrnehmung und kulturelle Prägung in Frage zu stellen. Cannes als das vielleicht wichtigste Filmfestival der Welt hat durchaus eine Verantwortung. Und ein Teil dieser Verantwortung ist es, Regisseurinnen den längst überfälligen Platz in den vordersten Rängen zu gewähren. Wenn Cannes nicht den ersten Schritt in eine gleichberechtigte Zukunft des Kinos geht, wer soll es dann tun?
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