Meine Brüder und Schwestern im Norden

Schon in ihrem letzten Film Verliebt, Verlobt, Verloren nahm die südkoreanische, in Deutschland lebende Regisseurin Sung-Hyung Cho Nordkorea in den Blick, das unerreichbare Nachbarland ihrer Heimat. Unerreichbar deshalb, weil es Südkoreaner_innen nicht erlaubt ist in den Norden zu reisen und umgekehrt. Ihr deutscher Pass aber ermöglichte Sung-Hyung Cho das scheinbar Unmögliche: eine mit der Kamera begleitete Reise nach und durch Nordkorea.

© Kundschafter Filmproduktion GmbH

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Meine Brüder und Schwestern im Norden ist, wie der Titel bereits andeutet, ein persönlicher Film. Die Regisseurin macht ihre Ängste und Zweifel in Anbetracht der Unternehmung in aller Kürze, aber doch deutlich transparent, spricht im einleitenden Voice Over über ihre Bedenken hinsichtlich der Begegnung mit Menschen aus Nordkorea. Es ist auch dieses kurze Voice Over, in dem Cho zum ersten und letzten Mal die Rahmenbedingungen ihrer Reise erwähnt: Orte, Route und Interviewpartner_innen sind von der nordkoreanischen Regierung vorgegeben.

Fortan aber verliert die Regisseurin kein Wort mehr über diese potentiell manipulativen Drehbedingungen. Ihr Dokumentarfilm zeichnet sich durch eine bewundernswerte Offenheit und Objektivität aus, die das Fällen von Urteilen ausschließlich den Zuschauer_innen überlässt. Wir dürfen entscheiden, ob wir den Aussagen der Menschen auf der Leinwand trauen, den ungetrübt positiven Beschreibungen des nordkoreanischen Alltags, den Lobpreisungen des gottgleichen Führers. Wir dürfen entscheiden, wie repräsentativ die hübschen Orte sind, das brandneue, wenn auch beklemmend leergefegte Spaßbad, die vor Sauberkeit und Ordnung glänzende Sportschule oder auch die fröhliche Fabrikarbeit. Indem sich aber Sung-Hyung Cho hier selbst kein Urteil erlaubt, motiviert sie auch uns den Eindrücken, Bildern und Geschichten mit größtmöglicher Offenheit zu begegnen. Könnte es nicht auch sein, dass wir etwas entdecken, das uns gefällt?

Es gibt mehrere Momente in Meine Brüder und Schwestern im Norden, die uns ermöglichen, festgefahrene Ideen vom Leben in Nordkorea zu hinterfragen. Nicht nur die atemberaubend schöne Landschaft, auch die zum Teil wenn auch pragmatisch, so doch funktionalen Strukturen – ein Bauer beispielsweise kocht mit Methangas, das er aus den Ausscheidungen seiner Familie gewinnt – können tatsächlich beeindrucken. Gibt es hier für uns vielleicht mehr zu lernen als wir dachten?

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Nichts ist nur gut oder nur schlecht – das könnte das Fazit aus diesem Dokumentarfilm sein. Das Irritierende dabei aber ist, dass uns nichts Schlechtes zum Ausgleich des Guten angeboten wird. Niemand in diesem Land scheint Zweifel am politischen und ökonomischen System zu haben, niemand scheint unter irgendetwas zu leiden. Auf unangenehm demonstrative Weise betonen die Menschen ihr Lebensglück und die Größe und Güte ihres politischen Führers und rücken gerade dadurch die gegenteilige Aussage in den Möglichkeitsraum. Dabei bleibt vollkommen unklar, wie groß der Anteil auswendigergelernter Aussagen, wie groß der durch Indoktrination und Erziehung verinnerlichten Überzeugungen ist. Glauben sich die Menschen das was sie da sagen?

Auch hier bleibt Sung-Hyung Cho höflich respektvoll, akzeptiert Tabuthemen und kommuniziert ausschließlich auf der Informationsebene. Sie stellt die Aussagen ihrer Interviewpartner_innen nicht in Frage, sondern geht auf alle noch so haarsträubend übertriebenen Schilderungen mit überzeugendem Interesse ein. Die Haltung und die ihr mit den Menschen gemeinsame Sprache ermöglichen die unter diesen Voraussetzungen größtmögliche Vertrauensbasis.

Nur an einer einzigen Stelle erlaubt sich Sung-Hyung Cho einen wertenden Kommentar, wenn sie Pjöngjang als Vorzeigestadt beschreibt, die sich erheblich von anderen Orten abhebt. Von dieser Aussage abgesehen verzichtet sie darauf, ihrem Publikum einen roten Faden vorzukauen. Er ist jedoch da! Egal an welchem Ort, ob am Arbeitsplatz, in Schule oder gar Kindergarten, fängt die Kamera Menschen bei choreographierten Handlungen ein. Das mit Gesten untermalte Singen patriotischer Kinderlieder fügt sich damit nahtlos an die verpflichtende Gymnastikpause in der Textilfabrik. Dabei wirken einige Szenen wie Realsatire, bestätigen eben jene Klischees, von den sich Satiren wie The Interview nähren.

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Spannend ist auch, dass Kim Jong-un sowie sein Vater Kim Jong-il auf eine quasireligiöse Weise die Antwort auf alle Fragen bilden. Egal ob es sich um den Bau einer Schule oder eines landwirtschaftlichen Kollektivs handelt, den Ursprung bildet immer der politische und geistige Führer, der auf geradezu übermenschliche Weise an allen Orten gleichzeitig präsent zu sein scheint, ohne jemals tatsächlich aufzutreten. Nicht nur, dass Sung-Hyung Cho ihm keine Screen-Time schenkt, obwohl es vermutlich ein Leichtes gewesen wäre an propagandistisches Bildmaterial zu gelangen, auch die Interviewpartner_innen beten nur Mythen aus zweiter Hand herunter, Geschichte über jemanden, der einen der Führer getroffen hat, während diese jedoch auch in den Erzählungen reine Phantome bleiben.

Das dritte Motiv, das Sung-Hyung Cho subtil in Meine Brüder und Schwestern im Norden etabliert, ist das einer Leistungsgesellschaft. Kommunismus, so ist hier zu lernen, bedeutet mitnichten die bedingungslose Gleichbehandlung aller Menschen. Angeblich werden zwar alle Nordkoreaner_innen gleichermaßen mit Lebensmitteln versorgt, doch ist der Lohn an Produktivität gebunden. Wer mehr Reis erntet, darf auch mehr Reis mit nach Hause nehmen (und mehr Reis an die Regierung spenden). Wer sich vorbildlich benimmt und die quantitativ beste Arbeit leistet, erhält in der Näherei ein höheres Gehalt. Das gesamte Land ähnelt einem streng geführten Internat, dessen Bewohner_innen entmündigt werden. Als säßen sie noch in der Schule kommen beispielsweise die Fabrikarbeiterinnen am Ende des Tages zusammen, um einem Bericht der an diesem Tag besten und schlechtesten Leistungen der Kolleginnen zu lauschen. Nordkorea zeigt sich als ein System, in dem Menschen nicht nur einer konstanten Beobachtung, sondern vor allem auch einer Bewertung ausgesetzt sind.

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All das erzählt Sung-Hyung Cho ohne es zu erzählen. Ihre absolute Zurückhaltung ermöglicht es den Interviewpartner_innen, das gesellschaftliche System Nordkoreas stärker zu entlarven als es ein pädagogischer Film jemals könnte. Zugleich bleiben die Sprecher_innen hier stets Menschen, die ebenso wenig eine Verurteilung erfahren wie das politische System, in dem sie leben. Damit distanziert sich Sung-Hyung Cho sichtbar von der propagandistischen und manipulativen Kunst und Berichterstattung, der sie in Nordkorea begegnet. Wenn ihr Film eine moralische Botschaft besitzt, dann die von der unschätzbaren Bedeutung freier Meinungsäußerung und – bildung.

Kinostart: 14. Juli 2016

Sophie Charlotte Rieger
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