Locarno 2023: Drei deutschsprachige Filme, die auf die Zukunft hinweisen
Neuentdeckungen bei Locarno
Das Gute an Filmfestivals wie Locarno ist, dass man verschiedene neue Filmemacher:innen entdecken kann. Die üblichen Verdächtigen haben ihren Platz, aber wie beim FID Marseille kann man sich auf das Gefühl freuen, nicht zu wissen, worum es in einem Film geht. Aus journalistischer Sicht kann man auch so etwas wie eine Pflicht empfinden, die Filme der großen Namen zu sehen, um über sie zu schreiben und einen Hype zu erzeugen. In dieser Hinsicht geht es schließlich um die Ökonomie: In den großen Medien wird das Schreiben über große Filme (wenn auch schlecht) bezahlt, während die wenig bekannten Filme im Posteingang verweilen. Und selbst wenn es nicht ums Geld geht, geht es um die Wirtschaftlichkeit: Wie viele Klicks bekommt ein Artikel über einen unbekannten Film? Wie viele bekommt ein Artikel über Indiana Jones? Dieser Gedanke wird noch komischer, wenn man bedenkt, dass die Filmkritik in ihrer Form an Irrelevanz leidet, da Tiktok, Youtube, Podcasts und ähnliche Medien zunehmend konsumiert werden. Gleichzeitig bemühen sich neue Filme von aufstrebenden Filmemacher:innen darum, ins Rampenlicht gerückt zu werden, was ihnen oft aus den beliebigsten Gründen nicht gelingt.
Filme bieten die Möglichkeit, diesen Problemen nicht zu entkommen, sondern sie aus einer anderen Perspektive zu sehen oder etwas zu erleben, das dem Publikum fremd ist, etwas, das nicht zu Europa gehört. Es muss gesagt werden, dass Locarno nicht für seine eskapistischen, unbeschwerten Filme bekannt ist, sondern genau das Gegenteil. Oft beleuchten sie Lebensumstände, die man nicht näher betrachten, sondern ignorieren wollte. Sei es die Geschichte von Migrant*innen (Sylvain George), die um ihr Leben kämpfen, sei es der traurige Zustand der modernen Welt (Radu Jude). Wenn es um Debütfilme geht, scheinen all jene, die nicht kontrovers sind, unterzugehen und kaum Aufmerksamkeit zu bekommen. Das deutsche Kino scheint nur dann von Bedeutung zu sein, wenn es auf der großen Bühne internationale Anerkennung erfährt oder ein Kassenschlager wird.
Denn oft heißt es, das deutschsprachige Kino sei verloren, weil es das „Publikum“ nicht anspreche. Meistens wird dieser fehlende „Erfolg“ mit ästhetischen Gründen in Verbindung gebracht. Ambitioniertheit wird mit Kostspieligkeit verwechselt und der Begriff der Ästhetik schamlos auf den Müll geworfen. Locarno hingegen hat dem Publikum eine Ahnung davon vermittelt, was gewonnen ist, wenn die Filmästhetik konsequent durchdacht wird. Klingt der Ton der Diskussion so, als müsse der deutschsprachige Film erst erfunden werden, so antworten diese Filme darauf, dass es starke Stimmen und Regiehaltungen im deutschsprachigen Kino gibt. Der Filmlöwin würdigt auch, dass diese Filme von Regisseur:innen gemacht wurden, die in ihrer Intention und Inszenierung dennoch unterschiedlich sind und, obwohl auch einige Gemeinsamkeiten zu erkennen sind, ihre eigene Inszenierung und ihren Ausdruckswillen durchsetzen, so komplex er auch sein mag.
Eine sanfte (und harte) Beobachtung von Körpern: Touched von Claudia Rorarius
So Touched von Claudia Rorarius, mit Isold Halldórudóttir und Stavros Zafeiris in den Hauptrollen. Der Film erzählt die Geschichte von Maria, einer Pflegerin, gespielt von Halldórudóttir, als sie Alex kennenlernt, einen querschnittsgelähmten Patienten, gespielt von Zafeiris. Der Film behandelt Marias Mehrgewicht sowohl als Selbstverständlichkeit als auch als ästhetische Möglichkeit, ein Ansatz, der in einem Meer von normativ schönen Körpern sehr willkommen ist. Rorarious hat vor allem die architektonischen Räume des Films – der Film spielt in einem Krankenhaus – so fotografisch schön wie möglich gestaltet, die Farben leuchtend und ausdrucksstark. Dies geht Hand in Hand mit einer schönen Darstellung von Mary: Was in normativen Vorstellungen als „Unvollkommenheit“ wahrgenommen wird, wird nicht weggeschnitten, sondern respektiert. Die Dauer der Aufnahmen hat auch die Funktion, den Blick des Zuschauers zu lenken, uns durch die Körper der Protagonist:innen in diese Geschichte hineinzulassen.
Dass es sich bei dem Film um die Neuverfilmung einer klassischen Liebesgeschichte handelt, obwohl der Begriff „Liebe“ im Film umstritten ist, lässt sich kaum vermeiden. Der starke Ansatz, sie von weniger sichtbaren Körpern bevölkern zu lassen, macht jedoch einen Unterschied, der erst spät im Film angesprochen wird. Die Körper werden hier sorgfältig beobachtet, ohne sie hart zu verurteilen oder absichtlich eklig zu finden. Marys Körper wird respektiert, ebenso wie der von Alex, dessen Wunsch, nicht in diesem Zustand zu sein, den Konflikt des Films vorantreibt. Die Darstellung dieser Körper kann zu Kontroversen führen, da der Film oft zweidimensional bleibt, doch ihre Präsenz ist mehr als nur eine Übung. Die Klischees werden geschickt bedient und Rorarius bleibt ihrer filmischen Grammatik treu, deren Einsatz von expressiven Farben und langen, in Halbnahaufnahme gedrehten Sequenzen noch lange nach der Sichtung des Films in Erinnerung bleibt.
Der Raum unserer Fehlkommunikation: Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag von Katharina Lüdin
Das Gleiche gilt für Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag. Katharina Lüdins Debütfilm besitzt eine besondere filmische Sprache, die zwischen bestimmten Momenten dreidimensionaler Tiefe den Raum des Films verflacht, was die Bewegungen ihrer Figuren akzentuiert. In Lüdins Film gibt es zwei Paare. Das eine ist eine lesbische Beziehung, das andere eine heterosexuelle, beide gehen in die Brüche. Aber wie sie auseinanderfallen, ist der Fokus des Films, vor allem, wie ihre unterschiedlichen Dynamiken im Dialog miteinander stehen. Merit (Jenny Schily) und Eva (Anna Bolk) sind in einer destruktiven Schleife gefangen; Lion (Lorenz Hochhuth) und Rose (Pauline Frierson) sind es nicht, aber ihre Beziehung wird durch eine Entscheidung, die vor Beginn des Films getroffen wird, zerbrechlich.
Wie in Touched hat man nach dem Film das Gefühl, dass diese Menschen in Käfigen gefangen sind, die perfekt zu ihnen passen, und dass sie hilflos ihr Verhalten wiederholen, in der Hoffnung, dass sich dieses Mal vielleicht etwas ändert. Unterschiede gibt es viele, aber sie betonen beide die verschiedenen Ansätze der Filmemacher.innen. Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag hat eine liebevoll behandelte analoge Textur, mit einigen Schnitten, die die Unterschiede zwischen analog und digital in den Vordergrund rücken. Besonders eine Einstellung am Ende des Films akzentuiert die familiäre Zerrissenheit, indem sie das Gefühl in den Schnitt transportiert. Mit seiner gepflegten digitalen Fotografie hebt Touched die perfekte Unvollkommenheit / unvollkommene Perfektion von Körpern hervor. Er spielt weniger mit dem Schnitt als mit dem lasziven Raum der Fantasie, der nie nur ein sexueller ist, sondern ein zutiefst emotionaler, gefüllt mit Tanz und Gesang.
In beiden Filmen wird jedoch darauf geachtet, das Leben und die Dynamik von Menschen hervorzuheben, die normalerweise nicht im Rampenlicht der Medien stehen. Der Grund, warum diese Geschichten oft nicht hervorgehoben werden, liegt auf der Hand: Sie passen nicht zu den normativen Standards dessen, was in den zeitgenössischen Medien dargestellt werden kann. Ob es sich nun um verschiedene Arten von Körpern oder verschiedene Arten von lesbischen Beziehungen handelt, diese scheinen einfach nicht ohne eine gehörige Portion Didaktik zugelassen zu werden. Touched lehnt sich mit seinen radikalen Gesten etwas zurück, deutet oft drastischere Entwürfe für seine Geschichte an, behauptet aber unmissverständlich, dass diese Körper gesehen und ihre Wünsche nicht versteckt werden sollten, zusammen mit den möglichen gesellschaftlichen und psychologischen Auswirkungen davon. Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag überträgt die Schwierigkeiten der familiären und romantischen Dynamik gekonnt in die Form des Films und erlaubt die Art von Schnitten und figuralen Bewegungen, deren Eindringlichkeit bis zur Schlussszene erhalten bleibt. Er gibt sich selbst Raum zum Erforschen toxischer Dynamiken und wie sie die Atmosphäre seiner Kompositionen vergiften.
“Ich bin doch da”: Katharina Hubers Ein schöner Ort
Toxische Kompositionen wiederum passen zu einer Beschreibung von Katharina Hubers Ein schöner Ort. Der Film „eine Dorfgeschichte von Acker“ lässt seine Protagonist:innen durch den Schnitt leben und saugt sie durch seine Kompositionen aus. „Abwegige“ Kompositionen, im Sinne eines schrägen, niederländischen Blickwinkels, gibt es in Hubers Welt nicht. Stattdessen kommt die Abweichung dadurch zustande, dass ihre Figuren, Güte (Clara Schwinning) und Margarita (Céline De Gennaro), den Rahmen schön bevölkern, aber mit ausgeprägter Mimik und dazwischen liegenden Objekten, die den Rahmen stören. So wird die unverwechselbare Stimmung des Films eingefangen, in dem niemand weiß, wohin er geht, und doch ist er hier, zumindest für die absehbare Zukunft. Auch Fragen der Repräsentation fließen in den Film ein, wenn auch eher durch die Hintertür, da es nichts Sicheres über das Dorf gibt, in dem Güte und Margarita leben, außer dass sie in diesem obsessiv konstruierten Raum existieren.
Was Ein schöner Ort aber mit den anderen deutschsprachigen Filmen in Locarno gemeinsam hat, ist seine hartnäckige Sturheit in Bezug auf seine Filmgrammatik. Das Schnittmuster wird nur selten geändert, was bedeutet, dass das Tempo kontrolliert und stringent ist. Bis es schneller wird. Dann lässt der Film mehr zu, während er weniger preisgibt. Die Kapitel bestimmen angeblich das Tempo, aber sie entsprechen einer jazzigen Konfiguration, die reich an Überraschungen ist. Visuell färben Seitenschatten die meisten Figuren Der Effekt ist rigoros melancholisch und grenzt an nihilistische Dunkelheit. Ein solches Beharren auf den „Regeln“, die zu Beginn des Films aufgestellt wurden, wird in den Filmen von Rorarius und Lüdin nur selten gebrochen, und wenn, dann gibt es meist einen formalen Grund dafür, nicht einfach nur Autokratie. Dies sollte nicht mit mangelnder Flexibilität verwechselt werden, denn die hier vorgestellten Filme haben ihre Entscheidungen in Bezug auf Dauer und Fotografie auf eine Art und Weise getroffen, die die Subjektivität ihrer Charaktere, in einer schön ausgesetzten modernistischen Geste, widerspiegelt und komplex macht.
Aber Ein schöner Ort hat noch andere Ideen, die eine Verknüpfung mit Und dass man ohne Täuschung zu leben vermag möglich machen, nämlich die Verwendung von Musik und Setting, um eine komplizierte Einsamkeit zu vermitteln, die von Momenten unvorhersehbarer Handlung geplagt wird. Hubers Film wird von dem Choral „Empor hebt Luft“ durchzogen, der die Dimension des Films als gedämpftes Zeit-Epos andeutet. Die Charaktere sind oft verloren und brechen angesichts ihrer Umgebung in Gelächter aus. Diese besondere Verwendung der Figuren als Träger nicht nur ihrer Subjektivität, sondern auch des umgebenden Schreckens und einer Vielzahl von Haltungen, die von der Umgebung ausgehen, stellt die Filme von Lüdin und Huber in die Tradition des Modernismus, der seine Figuren sehen und gesehen werden lässt.
Diese drei Produktionen verstehen sich nicht als didaktische feministische Filme, sondern wissen um den Wert der Entwicklung der feministischen Geste durch formale Mittel. Wenn es etwas Feministisches an ihnen gibt, dann ist es ihr Beharren auf einer gewissen Integrität der Form, eine Berücksichtigung dessen, was uns diese Körper, Gesichter und Orte über uns selbst zu sagen haben, sei es durch Kommunikationsprobleme, Körper, die von Bedeutung sind, oder das unaufhörliche Streben nach Fortschritt. Es sind keine „Themenfilme“, bei denen man durch all ihre Lektionen geführt wird und in denen genau erklärt wird, worum es geht. Vielmehr bevölkern diese Filme ihre Räume mit Figuren, die im Grenzbereich zwischen Bedauern, Melancholie und Pessimismus leben. Die Figuren, deren Bewegungen und Blicke eine ausgeprägte Figurenökonomie der Vermeidung, Fehlkommunikation und Beleidigung bilden, fordern uns auf, ihre Welten unabhängig voneinander zu betrachten und ein vorsichtiges Urteil zu fällen, damit wir die Realität nicht selbst falsch einschätzen. Mit diesen drei Filmen hat man, wie es eine Figur in „und dass man ohne Täuschung zu leben vermag“ ausdrückt, eine Vorstellung davon, was das Kino dürfen sollte.
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