Gast-Löwin: Piggy

Achtung: Diese Rezension enthält Spoiler!

Carlota Pereda wagt sich in ihrem Debütfilm Piggy an ein moralisches Gedankenexperiment, das sie bereits 2018 in ihrem gleichnamigen Kurzfilm mit einem Cliffhanger beendete. Nun erzählt sie die Geschichte ebenso überraschend wie konsequent zu Ende: Teenagerin Sara (Laura Galán), die wegen ihres Mehrgewichts unter Mobbing leidet, erwischt wie durch einen wohlwollenden Schicksalswink einen Serienmörder (Richard Holmes) in flagranti beim Entführen ihrer drei Peinigerinnen.

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Sara ist blutüberströmt und ihre Kleidung zerfetzt.

© Alamode

Bevor sich das Blatt für Sara durch das Aufeinandertreffen mit dem Serienmörder wendet, begleiten wir die Protagonistin durch ihre alltägliche Provinzstadthölle aus verbalen und physischen Übergriffen, die immer weiter eskalieren. Dabei spart Carlota Pereda keine potenzielle Bosheit aus, keinen auch noch so sicher geglaubten Raum lässt sie unverletzt. Pereda arbeitet sich penibel durch verschiedene Ausprägungen von Bodyshaming und bringt ihre Protagonistin an psychische und physische Grenzen, die auch den Zuschauer:innen einiges abverlangen. Es ist allen voran ein Dreiergespann normschöner Teenagerinnen, die keine Gelegenheit verpassen, Sara zu schikanieren. Social Media ist in Piggy der erste Schauplatz, an dem ihre Peinigerinnen Sara mit ihren Eltern bloßstellen und einer Hasstirade aussetzen. Damit nicht genug, folgt ihr das Trio ins menschenleere Freibad und nachdem die tonangebende Maca (Claudia Salas) sie beinahe ertränkt, verschwinden die Drei mit Saras Sachen. Die Schikanen mögen ziemlich klischeehaft daherkommen, doch sie führen unverhohlen ein konstantes, gesellschaftliches Problem vor Augen: Unsere Gesellschaft sieht zu gerne weg bzw. sucht die Schuld beim Opfer, das mit seinem  normabweichendem Äußeren die Anfeindungen angeblich selbst provoziert. Und dass trotz Bewegungen wie Body Positivity ein immerwährender Be- und Entwertungsprozess des weiblichen Körpers entlang normativer Schönheitsgrenzen stattfindet, an dem sich alle, mehr oder weniger bewusst, beteiligen. Die Leidenserfahrungen, die Sara macht, dringen dank des mitreißenden Spiels von Laura Galán bis ins Mark. Es bedarf keiner filmischen Verstärker, um ihren Schmerz nachzufühlen. Auch fragmentiert Pereda nicht unnötig mit Schnitten und Nahaufnahmen den Körper der Protagonistin, wie es der male gaze in Horrorfilmen typischerweise tut. Sie lässt Sara in ihrer Ganzheit Verzweiflung, Wut und Scham ausagieren, und betont so einerseits die leibliche Dimension von Diskriminierungserfahrungen und normalisiert andererseits den nicht normschönen weiblichen Körper, der zu selten in Hauptrollen Sichtbarkeit erlangt. 

Sara sitzt im Bikini am Ufer eines Flusses und schaut ernst. Im Wasser schwimmt ein junger Mann und blickt zu ihr herüber.

© Alamode

Doch Piggy wäre wohl ausschließlich ein Sozialdrama, wenn dem alltäglichen Grauen, das Sara durchlebt, keine klassischen Horrorelemente beigemengt wären. So taucht als Kontrast zur unkonventionellen Protagonistin ein recht stereotyper Mörder in einem schäbigen Van in der Gegend auf und verguckt sich in die schüchterne Sara. Von da an beginnt sein brachialer Rachefeldzug gegen all jene, die das Objekt seiner Begierde bedrohen. Doch Pereda verwehrt sich gegen eine Bonnie und Clyde Story, die im Zusammenführen von zwei gesellschaftlich Verstoßenen zu offensichtlich die Erwartungen bedient hätte. Auch lässt die Beziehung zwischen Sara und ihrem namenlosen, stillen Beschützer keinen Hauch von Stockholm-Syndrom zu. Überhaupt scheint sie keinem vorhersagbaren Muster zu folgen. Viel mehr belässt Pereda ihre Protagonistin in einem ambivalenten Zustand von Angst und Lust gegenüber dem Fremden und gewährt ihr damit bis zum Schluss einen offenen Handlungsspielraum. Die Figur des Mörders bleibt im Gegenzug ziemlich berechenbar und unterkomplex, was normalerweise das Los der weiblichen Opfer in Serienkiller-Filmen darstellt, nämlich nichts weiter als eine Requisite für dessen Mordfantasien zu sein. In Piggy kehrt die Regisseurin dieses antiquierte Verhältnis um und setzt den Mörder als Mittel zum Zweck ein, um Sara aus ihrer Passivität bzw. dem stillschweigenden Dulden aller Demütigungen herauszulocken. Ähnliches lässt sich auch über die drei Peinigerinnen sagen, die sich in ihrer Gruppendynamik beinahe schablonenhaft verhalten und damit passgenau in die Kategorien Anführerin, Opportunistin und mit sich hadernde Mitläuferin hineinrutschen. Allerdings ist es in diesem Fall kein subversiver Kunstgriff, sondern leider eine verschenkte Möglichkeit, auch die Motivation hinter dem Mobbing zu beleuchten, zu ergründen, inwiefern der Druck durch normative Körperbilder diese jungen Frauen zu Täterinnen macht. 

Szenenbild aus Piggy

© Alamode

Sehr überzeugend, ja fast ein heimlicher Star unter den weiblichen Nebenfiguren, ist hingegen Saras Mutter, erstklassig verkörpert von Carmen Machi , eine widersprüchliche Matriarchin, die zwischen einer überfürsorglichen Mutter und einer herrischen Souveränin hin und her pendelt und dabei erstaunlicherweise nicht ihre Sympathie verspielt. Das ist wohl auch der gehörigen Portion Humor zu verdanken, die den ernsten Themen wie Mobbing und Body Shaming eine selbstironische Note gibt und eine eher seltene Zutat in Horrorfilmen darstellt, weil auf diese Weise der ganze Plot allzu leicht ins Komische kippt. Doch wohldosiert, wie es Pereda meisterhaft zeigt, verleiht diese Zutat zumindest den Figuren eine unwiderstehliche Echtheit, wenn auch stellenweise auf Kosten der Horroreffekte – was natürlich auch großzügig als intendierte, parodistische Überzeichnung der Genre-Eigenheiten gedeutet werden kann. Wer also einen klassischen Gruselfilm mit permanentem Nervenkitzel erwartet, wird mit Piggy wohl eher nicht warm.

Szenenbild aus Piggy

© Alamode

Abgesehen von diesem Wermutstropfen hat Carlota Pereda ein weit über die Genregrenzen des Horrorfilms hinausgehendes, kritisches Werk geschaffen, über den weiblichen Körper als beliebte soziokulturelle Projektionsfläche und die realen, bitteren und unvermeidlichen Konsequenzen, die für Frauen daraus resultieren, solange diese Projektionsfläche immerzu für tradierte, patriarchale Wunschvorstellungen herhalten muss. Allein mit der Hauptbesetzung ihres Langfilmdebüts erteilt die Regisseurin eine Absage an diese Wunschvorstellungen und ebnet ein Stückchen weiter den Weg für talentierte Schauspielerinnen, die aufgrund ihres vom dominierenden Schönheitsideal abweichenden Aussehens in Nischen stecken oder gar unsichtbar bleiben. In Piggy beweist Sara, dass diese gegenseitige Unterstützung, um hier an das anfangs erwähnte moralische Gedankenexperiment anzuknüpfen, selbst unter Lebensgefahr möglich ist. Denn statt ihre Unterdrückerinnen, die sie am Ende des Films in einem heruntergekommenen Fabrikgebäude gefesselt und um Rettung flehend vorfindet, ihrem Schicksal zu überlassen, beseitigt sie zunächst die eigentliche Gefahr, die in Gestalt des Serienmörders für vermeintliche Gerechtigkeit sorgt, und ebnet anschließend ihnen und sich selbst den Weg in die Freiheit. Subtil präsentiert sich die feministische Botschaft freilich nicht, aber manchmal braucht es eben große Gesten, um Veränderungen anzustoßen.

Kinostart: 27. Oktober 2022


Über die Gast-Löwin:

Julia Turbina hat an der deutschen Ostküste Slawische Literaturwissenschaften und Migration & Diversität studiert und versucht nun, in der Verlagshochburg Leipzig, als freie Übersetzerin Fuß zu fassen. In Mußestunden verarbeitet sie auf ihrem Blog über alles und nichts in Bild und Wort die charmanten Banalitäten des Lebens und ihre migrantischen Erfahrungen, die sie ohne Filme und Literatur wohl kaum unbeschadet überstanden hätte. Als Dank seziert sie diese nun schonungslos hinsichtlich ihrer blinden sexistischen Flecken.