FUCKING ÅMÅL

Fucking Åmål, der in Deutschland auch unter dem Titel Raus aus Åmål bekannte Coming-of-Film des schwedischen Regisseurs, Drehbuchautors, Schriftstellers und Dichters Lukas Moodysson (Lilja 4-ever) aus dem Jahr 1998, der als Kultklassiker des lesbischen Kinos gilt, versetzt die heutigen Zuschauer:innen in die 1990er-Jahre in der schwedischen Provinz zurück. In den Zimmern der Jugendlichen, die Spaghettiträgertops, Plateauschuhe, Namensketten, Markensweatshirts oder Basecaps tragen, sich gegenseitig nur per Festnetztelefon oder mit den ersten, riesigen Handys anrufen können und noch nicht die Möglichkeit haben, sich in Internetforen z. B. über ihre sexuelle Identität auszutauschen, hängen Nirvana-, Morrissey- oder Scream-Poster und ihr größter Traum ist, einmal bei einem Rave abzutanzen, obwohl Raves laut einer Jugendzeitschrift schon wieder out sind. Doch in Åmål kommen Trends immer erst an, wenn der Rest der Welt sie schon vergessen hat.

© Salzgeber

Wer in Åmål lebt und ein:e Teenager:in ist, will deshalb nur eins: weg. Die 15-jährige Agnes (Rebecka Liljeberg) wohnt mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder seit anderthalb Jahren in der schwedischen Kleinstadt am Vänernsee. Gut behütet wächst sie in einem Haus mit Garten auf. Heimlich ist Agnes in ein zwei Jahre jüngeres Mädchen aus ihrer Schule verliebt: die coole und beliebte Elin (Alexandra Dahlström). Freund:innen hat Agnes, die viel Zeit allein in ihrem Zimmer verbringt und auf ihrem Computer ein Tagebuch führt, in Åmål jedoch immer noch nicht gefunden. Damit sie endlich Anschluss findet, überreden ihre Eltern sie, zu ihrem 16. Geburtstag zuhause eine Party zu geben. Widerwillig lässt Agnes sich darauf ein.___STEADY_PAYWALL___

Zunächst droht die Feier in einer Katastrophe zu enden, denn niemand erscheint. Doch schließlich nimmt der Abend eine Wendung, mit der Agnes nie im Leben gerechnet hätte: Ausgerechnet Elin taucht gemeinsam mit ihrer Schwester Jessica (Erica Carlson) bei Agnes auf – und küsst die verdatterte Agnes, die jedoch schnell erfährt, was dahintersteckt: eine Wette um 20 Kronen zwischen Elin und Jessica. Agnes ist völlig verzweifelt, als Elin später plötzlich noch einmal vor ihrer Tür steht – und sie um Entschuldigung bittet. Die beiden vermeintlich so unterschiedlichen Mädchen verbringen den Rest des Abends miteinander, entdecken überraschend viele Gemeinsamkeiten – und kommen sich näher. 

Zur eigenen Identität stehen

Agnes, die schon lange in Elin verliebt ist, hadert nicht sehr mit ihrer sexuellen Identität. Eine Beziehung hatte sie allerdings noch nicht. Elin ist dagegen überfordert mit ihren neuen Gefühlen für Agnes. Mit ihrer älteren Schwester Jessica und ihrer Mutter, die wenig Geld hat, viel arbeiten muss und sich darum sorgt, was die Leute über ihre Töchter denken könnten, lebt Elin in einer kleinen Wohnung. Während Agnes einen verständnisvollen Vater hat, der ihr oft Mut macht, mit dem sie aber nicht darüber spricht, dass sie lesbisch ist, spielt Elins Vater keine Rolle in ihrem Leben. Beeinflusst und bedrängt von Jessica, ihrer wichtigsten Bezugsperson, die sich wiederholt queerfeindlich äußert, gibt Elin bald vor, in Johan (Mathias Rust) verliebt zu sein, für den sie in Wahrheit nichts empfindet. Elins Notlüge zieht Missverständnisse und Enttäuschungen nach sich. Doch Elin, die sich zunächst häufig von Jessica und den anderen Jugendlichen leiten lässt und ihre eigenen Gefühle verleugnet, macht im Laufe des Films eine Entwicklung durch, wird selbstbewusster und lernt, für sich einzustehen. 

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Die beiden jungen Schauspielerinnen Rebecka Liljeberg als Agnes und Alexandra Dahlström als Elin tragen Fucking Åmål mit ihrer glaubwürdigen und sensiblen Darstellung zweier lesbischer Teenagerinnen, die in ihrem provinziellen Umfeld mit Geschlechterklischees und Vorurteilen zu kämpfen haben, obwohl Schweden schon in den 1990er-Jahren als eins der liberalsten Länder galt, was LGBT-Rechte betrifft. Elins ältere Schwester Jessica, mit der Elin sich oft streitet und rauft, ist um Elins Ruf besorgt – und betreibt Slutshaming. Sie habe doch mindestens schon 70.000 Kerle geknutscht, wirft sie Elin vor, der das jedoch ziemlich egal ist. Jessicas Freund Markus (Stefan Hörberg) ist davon überzeugt, dass Mädchen von Technik, Sport und Autos keine Ahnung hätten und sich nur mit Schminke und schicken Klamotten auskennen würden. Einmal fängt er mit einem Jungen, mit dem sich Jessica unterhält, aus Eifersucht eine Prügelei an – und repräsentiert damit toxische Männlichkeit, die Jessica jedoch duldet, obwohl sie Markus Verhalten stört. 

Auch mit ihren Müttern können weder Agnes noch Elin offen über ihre sexuelle Identität sprechen. Als Elin ihrer Mutter beim Fernsehen sagt, sie sei lesbisch, reagiert diese gar nicht, sondern konzentriert sich weiterhin auf die TV-Show, in der man ein Auto gewinnen kann. Elin behauptet daraufhin, es sei nur ein Scherz gewesen. Agnes Mutter erfährt von ihrem Sohn, dass ihre Tochter lesbisch sei, und kann es nicht glauben, bis sie es in Agnes’ Computertagebuch liest. Obwohl sie keine Vorurteile hat, muss Agnes’ Mutter die Nachricht erst einmal verdauen, und Agnes ist so enttäuscht über den Vertrauensbruch, dass sie nicht mit ihrer Mutter reden will.

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Lesbischer Kultklassiker über universelle Themen

Die mit Handkamera gefilmten Szenen erzeugen eine Unmittelbarkeit, die es erleichtert, sich ins Filmgeschehen und in das Lebensgefühl der 90er-Jahre hineinzuversetzen. Zur häufig schwankenden Gefühlslage der Jugendlichen passt die zwischen Pop und Alternative Rock changierende Filmmusik. Der Song I Want to Know What Love Is der Band Foreigner untermalt Agnes und Elins ersten richtigen Kuss. Die schwedische Popsängerin, Songwriterin, Produzentin und DJane Robyn steuerte den Titelsong Show Me Love bei. Daneben versetzen u. a. Songs der alternativen Rockband Broder Daniel aus Göteborg und der schwedischen Popband Gyllene Tider, dessen Frontmann Per Gessle durch seine Band Roxette internationale Bekanntheit erlangte, in die Zeit vor der Jahrtausendwende zurück.

Aus Anlass des weltweiten Tages der lesbischen Sichtbarkeit am 26. April 2023 kommt Fucking Åmål in digital restaurierter Fassung im Rahmen der Queerfilmnacht noch einmal ins Kino. Lukas Moodysson, der auch das Drehbuch zum Film schrieb, der in Schweden sehr erfolgreich im Kino lief, mehrere schwedische Filmpreise gewann und u. a. auf der Berlinale 1999 den Teddy Award für den besten Spielfilm und eine Empfehlung beim C.I.C.A.E.-Preis in der Rubrik Panorama sowie beim Internationalen Filmfestival Karlovy Vary im selben Jahr den Spezialpreis der Jury, den Publikumspreis und den Don-Quijote-Preis erhielt, verhandelt in seinem Langspielfilmdebüt jedoch universelle Themen. Die trotz aller Nöte der beiden Mädchen mit Humor und Leichtigkeit erzählte Geschichte von Agnes und Elin ist nicht nur die zweier lesbischer Teenagerinnen aus der schwedischen Provinz Ende der 1990er, sondern die zweier mutiger Menschen, die lernen, in einem Umfeld, das sie nicht oder kaum unterstützt und dem sie sich nicht anvertrauen können, gegen den Strom zu schwimmen und zu sich und ihrer Identität zu stehen. Auch 25 Jahre nach seinem Erscheinen lohnt es sich also, den unterhaltsamen, feinfühlig inszenierten und emanzipatorisch wertvollen Coming-of-Age- und Coming-out-Film anzusehen.

Fucking Åmål kommt am 26. April 2023 in digital restaurierter Fassung im Rahmen des Tages der lesbischen Sichtbarkeit noch einmal ins Kino.  

Stefanie Borowsky
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