FFHH 2024: Transamazonia – Ein Kommentar

Tief im brasilianischen Regenwald lebt die weiße Rebecca (Helena Zengel) mit ihrem weißen Vater Lawrence (Jeremy Xido). Gemeinsam predigen sie der indigenen Bevölkerung die christliche Botschaft und Rebecca, die selbst auf wundersame Weise einen Flugzeugabsturz überlebt hat, heilt körperlich und psychisch kranke Menschen. Obwohl Lawrence und Rebecca eine enge Beziehung zu den einheimischen Iruaté pflegen, deren Lebensraum von der Abholzung des Regenwalds betroffen ist, sichert Lawrence ausgerechnet dem Besitzer eines Sägewerks zu, Rebecca werde seine im Koma liegende Frau heilen. So gerät das Mädchen unfreiwillig ins Zentrum des Konflikts zwischen Einheimischen und Holzfäller*innen und mitten hinein in eine Identitätskrise um die Fragen: Wer bin ich und wer will ich sein?

© Filmfest Hamburg

Transamazonia, das ist der Name einer der längsten Straßen der Welt, die Brasilien in Zukunft einmal quer durchlaufen soll. Sie repräsentiert gleichermaßen die Abholzung des Regenwalds wie auch die Ausbeutung anderer Ressourcen auf Kosten der indigenen Gemeinschaften, die in der Nähe ihres Streckenverlaufs eine Heimat haben – oder hatten. Um von der Verdrängung indigener Gruppen, hier die fiktiven Iruate, aus dem brasilianischen Regenwald zu erzählen, wählt Regisseurin Pia Marais allerdings weiße Protagonist*innen, genauer gesagt Missionar*innen, also die Perspektive der Kolonisator*innen. Denn auch wenn sich Lawrence in der Geschichte als – ja, durchaus streitbarer – white savior inszeniert, ist seine Absicht doch das Predigen einer den Einheimischen fremden Religion und ebenfalls eine ökonomische Ausbeutung durch Spenden für Rebeccas Wundertaten. Marais inszeniert ihn nie als Sympathieträger, sondern stets als zweifelhafte Figur, während Rebecca – ähnlich den indigenen Protagonist*innen – wie eine Spielfigur in Lawrences Scharade wirkt. 

Doch auch dieser kritische Blick auf den Prediger und sein Engagement in der Region verhindert nicht, dass der Film selbst aus seiner bzw. Rebeccas Perspektive erzählt ist, die von außen auf Figuren wie den indigenen Jugendlichen Jilvan (Iwinaiwa Assurini) und seinen Überlebenskampf gegen die Abholzung blickt. Das ist besonders in Szenen wie jener gefährlich, in der Lawrence einer Straßenblockade durch Jilvans Stamm Gewaltlosigkeit predigt. Ohne Einbettung in postkoloniale Diskurse wirkt dies wie eine weise Aufforderung zur Deeskalation, tatsächlich aber handelt es sich um eine fehlgeleitete Ansage an die Unterdrückten, sich ohne Gegenwehr in guter alter christlicher Manier der „anderen Wange“ weiterhin der Gewalt der Erober*innen zu ergeben. 

© Filmfest Hamburg

Auch wenn Pia Marais hier von der Abholzung des Regenwaldes und den Konsequenzen dieser Ausbeutung der Natur für die dort lebenden indigenen Gemeinschaften erzählt, liegt ihr narrativer Fokus doch klar auf den weißen Fremden. Es ist Rebeccas Coming-of-Age-Prozess, den Transamazonia erzählt, nicht der von Jilvan. Und schlimmer noch: Das Setting im Regenwald, der Konflikt zwischen Holzindustrie und den Iruate ist lediglich die Bühne, der Hintergrund, vor dem sich Rebeccas Geschichte abspielt. 

Obwohl Transamazonia die Zerstörung des Regenwalds – unter anderem als Lebensraum indigener Gruppen  – kritisiert, so entscheidet sich Pia Marais leider für eine Perspektive, die koloniale (Denk)Strukturen und damit Machtverhältnisse fortschreibt, anstatt sie infrage zu stellen.

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)