FFHH 2018: M

Sexualisierte Gewalt in der Kirche – wie Yolande Zauberman in ihrem Dokumentarfilm M zeigt – ist mitnichten nur ein Problem katholischer Institutionen. Gemeinsam mit ihrem Protagonisten Menahem reist sie nach Bnei Break, einen ultra orthodox geprägten Ort nahe Tel Aviv. Menahem möchte dort jene Männer* konfrontieren, die ihn in seiner Kindheit und Jugend über Jahre sexuell missbraucht hatten. Es handelt sich um Menschen an der Spitze der chassidischen Hierarchie, quasi unantastbar. Und Menahem ist auf der Suche nach seinen Eltern, die seine hilfe- und nähesuchenden Kontaktversuche ignorieren, vor allem seinen Vater, der ihn einst als „unrein“ beschimpfte, statt dem traumatisierten Jungen eine Hilfe und Stütze zu sein.

Auf eine mysteriöse und zugleich erschreckende Weise und vor allem ohne aktiv zu suchen, finden Menahem und Zauberman immer mehr von sexualisierter Gewalt betroffene junge Männer*. Schnell wird klar: Es geht hier nicht um einen Einzelfall, sondern um ein System, das sich über mindestens zwei, wenn nicht mehr Generationen ausdehnt. Und die Täter sind nicht nur religiöse Autoritäten, sie sind auch Brüder, Schwager und andere männliche Verwandte.

© Indie Sales

Als Zuschauende sind wir fassungslos in Anbetracht der grauenvollen Berichte der durchgehend männlichen* Protagonisten. Am befremdlichsten sind dabei das Lächeln und die Leichtigkeit, mit der die schrecklichsten Erlebnisse beschrieben werden. „Ich wurde seit meinem siebten Lebensjahr sexuell missbraucht!“ „Ach echt? Ich auch!“ Vielleicht handelt es sich um eine kulturelle Eigenart, ein spezifischer Weg mit Themen wie diesen umzugehen. Vielleicht handelt es sich um eine der vielen Masken, von denen Menahem spricht, hinter denen sich die Betroffenen aus Selbstschutz verschanzen.

Die Regisseurin, die im Voice Over ihre Erlebnisse aus einer sehr persönlichen Ebene und zugleich doch mit Zurückhaltung kommentiert, beschreibt ihre Protagonisten als kindlich. Und tatsächlich wirken sie alle miteinander auf eine naive Weise unbeschwert – eine Ausstrahlung, die mit ihren bedrückenden Lebensgeschichten schwer in Einklang zu bringen ist. Aber auch Yolande Zauberman wählt keinen Ton der Betroffenheit und des niederdrückenden Dramas. In ihrem filmischen Konzept ist auch immer wieder Raum für befreiende spirituelle Momente, manchmal sogar für fröhliche Festlichkeiten. Denn zumindest Menahem ist noch immer ein zutiefst religiöser Mensch, seinen Schmerz kanalisiert er primär in liturgische Gesänge. Die erfahrene Gewalt hat sein Leben gezeichnet, aber sie hat ihm nicht seinen Glauben genommen.

Und so verzichtet auch der Film auf eine vereinfachte Schwarz-Weiß-Zeichnung der Religion, in die zu verfallen hier so herrlich einfach wäre. Das orthodoxe Judentum ist hier nicht die Ursache des Missbrauchss. Nur wo Macht ist, kann Macht auch missbraucht werden. Nur wo Hierarchie herrscht, bleiben Täter unantastbar. Und somit gibt es Hoffnung, Lösungsansätze und Raum für Versöhnung.

© Indie Sales

Und es gibt Solidarität. Zauberman kommt ihren Protagonisten bei diesem hoch sensiblen Thema erstaunlich nahe, wohnt intimen Gesprächen bei, in denen die Männer* sowohl über den erlebten Missbrauch als auch zuweilen von eigenen Gewalttaten erzählen. Dabei machen sich die Menschen vor der Kamera hochgradig verletzlich, zeigen sich in all ihrer Schwäche und Not und präsentieren damit ein heilsames Männer*bild, vielleicht eines, dass einen Beitrag dazu leisten kann, den Kreislauf von sexualisierter Gewalt zu durchbrechen.

Dabei ist die Kamera stets hautnah dabei und doch distanziert. Das gelingt durch eine im Grunde viel zu nahe Handkameraführung, die oft zu Unschärfe führt und nur Teile der Protagonisten abbildet – mal ein Gesicht, mal nur Hände. Sie wirken niemals ausgestellt, niemals präsentiert, niemals für diesen Film „missbraucht“.

Nähe ohne Übergriff – das ist auch ein Thema des Films, vor allem ein Thema in der Lebensgeschichte von Menahem, dessen Kindheit von der Sehnsucht nach körperlicher Zuwendung geprägt ist, die er fataler Weise an der falschen Stelle und auf die falsche Weise erfährt. Und auch das gehört zur geradezu schockierenden Ehrlichkeit dieser Menschen, denn manche Berührungen, so Menahem, konnte er sogar genießen.

So gelingt Yolinde Zauberman mit M die schwierige Gratwanderung, Gewalt als solche unmissverständlich zu kennzeichnen ohne in Pauschalurteile abzugleiten. Wer hier die Täter sind, wer die Verantwortung trägt, steht niemals zur Debatte. Doch sowohl Menahem als auch Zauberman sind mutig genug, sich dem Thema sexualisierter Gewalt komplexer anzunehmen als nur in vermeintlich objektiven Schuldzuweisungen. Das macht M zu einem außergewöhnlichen Film, in dem es viel weniger um die Gewalterfahrung als um die Wege der Bewältigung, die Chancen und Perspektiven geht, einem Film, in dem es schließlich keine „Opfer“ gibt, sondern nur Überlebende.

Sophie Charlotte Rieger
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