ER SIE ICH

Die Krux einer Paartherapie ist, dass sie zwar mit großer Wahrscheinlichkeit Klarheit, nicht zwingend aber auch Nähe schafft. Carlotta Kittels ungewöhnliches Familienportrait ER SIE ICH ist das beste Beispiel für diese These. Allein durch Schnitt und Montage bringt sie ihre zerstrittenen Eltern in einen überfälligen Dialog, der schließlich jedoch für niemanden den erhofften Ausgang nimmt. In zwei Schritten konfrontiert Kittel Vater und Mutter miteinander und nicht zuletzt auch mit der gemeinsamen Tochter, Carlotta Kittel selbst: Zunächst befragt sie die Eltern getrennt voneinander zu ihrem Kennenlernen, ihrer Liebe, Beziehung, Elternschaft und deren Verlauf. Vier Jahre später wiederholt sie die Interviewsituation und ergänzt sie durch Antworten des jeweils anderen: Christian kann sich Angelas Interview ansehen und andersherum. Das Ergebnis sind ein zeitverzögerter indirekter Dialog und zwei Versionen derselben Geschichte von Liebe, Verletzung und Familie.

© Andac Karabeyoglu

Mitte 20 ist die Regisseurin und Tochter der Protagonist_innen. Die Ereignisse, die Mutter Angela und Vater Christian beschreiben, liegen also ein Vierteljahrhundert zurück. Da ist es nur natürlich, dass jede_r Beteiligte andere Details erinnert, geschilderten Ereignissen einen subjektiven Anstrich verleiht. Doch wie sehr die Berichte an einzelnen Stellen voneinander abweichen ist dann schließlich doch überraschend bis erschreckend. Und das Perfide daran ist: Niemand scheint zu lügen. Können zwei Menschen, sich widersprechende Wahrheiten berichten, ohne dass eine_r von ihnen lügt? Gibt es beim Blick zurück in die Vergangenheit überhaupt so etwas wie eine Wahrheit oder vielleicht nur individuelle Versionen, multiple aber gleichberechtigte Varianten?

In diesen philosophischen Fragen liegt heilsames Potential. Wie oft ertappen wir uns bei Diskussionen à la „Aber das hab ich doch gesagt!“ – „Nein, hast Du nicht!“?! Wie beruhigend wäre es zu wissen, dass beide Aussagen den gleichen Wahrheitsgehalt besitzen? Wie viele bittere Zerwürfnisse könnten wir uns ersparen?

© Andac Karabeyoglu

Diese Botschaft zu vermitteln ist eine große Leistung der Regisseurin und ihrer Editorin Andrea Herda Muñoz, denen es gelungen ist, die Aussagen der zerstrittenen Protagonist_innen so gleichberechtigt zu behandeln, dass weder der Film noch das Publikum Position für eine einzige Partei beziehen können. Angela und Christian haben gleich viel Sprachanteil, finden sich in identischen Interviewsituationen wider. Ja, sie sitzen sogar auf derselben Couch, an unterschiedlichen Enden, quasi nebeneinander, aber eben nicht zur selben Zeit. Um diesen Effekt zu betonen, montieren Kittel und Herda Muñoz die Sequenzen teilweise nebeneinander in denselben Bildausschnitt und schaffen damit eine scheinbare Gleichzeitigkeit der Interviews, einen tatsächlichen Dialog, den es nie gegeben hat.

Dabei nimmt sich Carlotta Kittel aus ihrem Film nicht heraus. Sie ist nicht nur als Thema präsent, sondern auch als Mensch. Wir hören ihre Interviewfragen, selten Kommentare. Einmal streckt sich eine Hand aus, um die der Mutter zu greifen und einen Moment weiblicher* Solidarität zu besiegeln. Einmal tritt sie für eine Umarmung hinter der Kamera hervor. Der Mut der jungen Frau*, sich auf diese Weise öffentlich mit der eigenen Vergangenheit und Familiengeschichte zu konfrontieren, ist bewundernswert und für das Gelingen dieses filmischen Konzepts unbedingt notwendig. Es handelt sich hier eben nicht nur um zwei Menschen, die ihre individuellen Versionen der gemeinsamen Vergangenheit verhandeln, nicht nur um eine philosophische Frage über die (Un)Möglichkeit der Wahrheitsfindung, sondern um eine verdammt persönliche Geschichte. Ja, die persönlichste Geschichte überhaupt vielleicht, nämlich die der eigenen Menschwerdung. Carlotta Kittel forscht nach den Ursprüngen ihres Seins und Werdens.

© Andac Karabeyoglu

Als Zuschauende dürfen wir sie auf diesem Weg begleiten, der mal lustig, mal, traurig, mal aufwühlend, mal beruhigend wirkt und der unsere Neugier weckt. ER SIE ICH ist ein Film, den mensch nicht unbeteiligt schauen kann, der immer zum Nachdenken, Diskutieren, vielleicht gar zum Handeln einlädt, einladen muss, weil er um das wesentlichste aller Themen kreist: das Sein selbst, die Konstitution der Identität aus Erlebtem und Erinnertem. Und es geht um die große Frage nach der Erkenntnis: Gibt es nur eine Wahrheit oder vielleicht viele? Und wenn es viele gibt, müssen wir uns dann miteinander auf eine gemeinsame einigen, um uns zu verstehen?

ER SIE ICH ist ein außergewöhnlicher Film. Außergewöhnlich klug, aber auch außergewöhnlich gut gemacht: Carlotta Kittel, studierte Editorin, und ihr Team nutzen Schnitt und Montage, um eine Begegnung zu inszenieren, die nicht stattgefunden hat, und zwei Versionen derselben Geschichte zu erzählen, die sich wie ein romantisch-dramatischer Spielfilm im Kopfkino ihres Publikums abspielt.

Gerne würde ich nun den Kinostart verkünden. Doch den gibt es noch nicht. Bis es so weit ist, könnt ihr die Facebook-Seite des Films verfolgen und auf ein Screening in der eigenen Stadt hoffen. Denn verpassen, solltet ihr ER SIE ICH auf keinen Fall!

Sophie Charlotte Rieger
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