DOK.fest München 2024: Disco Fox

In ihrem Regiedebüt Disco Fox begleitet Carmen Kirchweger eine Mammutaufgabe: Die Erschließung und Erstbegehung einer „Bigwall“ in Grönland durch den Expeditionskader 2020-2022 des Deutschen Alpenvereins (DAV). Durchsteigungen von Bigwalls, die als Felswände mehrere hundert Meter hoch hinausragen, nehmen oft nicht nur mehrere Tage in Anspruch, sondern sind auch stark von der Zusammenarbeit im Team charakterisiert: Kletter*innen sind in Seilschaften zur gegenseitigen Sicherung unterwegs, Rollen innerhalb der Klettergruppe zur Ersparnis von Zeit und Energie sind klar verteilt.___STEADY_PAYWALL___

Zwei Jahre lang begleitete Kirchweger den DAV-Kader, zusammengesetzt aus sechs Kletterinnen und Trainerin Dörte, bei der alpinistischen Ausbildung. In dieser Zeit entstanden ausführliche Aufnahmen von Trainings-Klettertouren ebenso wie von Momenten abseits des aktiven Sports. Auch bei Besprechungen von Reisedetails und dem Tagesausklang beim gemeinsamen Abendessen in der Gruppe ist Disco Fox dabei. In seinem Aufbau betont der Film vor allem den Spaß, den die Kletterinnen bei der Ausbildung in der Gruppe empfinden. Gegenseitiger Support wie auch Respekt charakterisieren den Umgang des Kaders untereinander.

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Gemeinsam lernen Luisa, Amelie, Lea, Carolin, Janina und Rosa Vertrauen in das eigene Können aber auch den realistischen Umgang mit der individuellen körperlichen Kraft und eine Einschätzung der natürlichen Bedingungen. Die Kletterinnen reflektieren offen, wie sie mit Ängsten und Anstrengung umgehen. Besonders betonen die Kadermitglieder, dass das finale Ziel der Erstbegehung nur in Teamarbeit zu erreichen ist. Dabei brechen sie vor allem mit dem Heldennarrativ des Einzelgänger*innen-Typus: Sie beschreiben ein Auffangen in der Gruppe nicht als einen Angriff auf das eigene Ego, sondern als motivierend. So verhandeln die Kletterinnen offen Entscheidungen über ein mögliches Abbrechen von Expeditionen und wie auch Rückschlägen mit Ruhe begegnet werden muss, um Teammitglieder nicht zu gefährden und das Ziel der Erschließung des Fox Jaw Cirque in Grönland nicht aus den Augen zu verlieren.

Die körperlichen Kräfte, die hinter dem vorsichtigen, von großer Anstrengung geprägtem Klettern an verschiedenen Felsfassaden stecken, werden in dem von Kirchweger gewählten Fokus auf Trainingstouren besonders deutlich. Ähnlich, wie auch bei Erschließungen von Routen Geduld gefordert ist, scheut sich auch Disco Fox nicht für lange Zeit mit den Kletterinnen an der Wand zu verweilen. In diesem Kontext ist Disco Fox voll und ganz Sportdokumentarfilm, der Einblicke in den Bergsport Klettern gibt. Einem Bereich, wie der Film es schildert, in dem es im Vergleich immer noch wenige aktive FLINTA gibt.

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Besonders die Kameraarbeit hilft den Zuschauer*innen den Umfang der Anstrengung einer Erschließung zu erfassen. Aufnahmen der Kletterarbeit direkt an der Wand mit geduldigem Ertasten der einzelnen Schritte werden ergänzt durch ausgedehnte Drohnenaufnahmen von Bergen und Felswänden. Letztere zeigen in langsamen Fahrten von Nah- in Weitaufnahmen imposant Risse und Spalten, in deren Mächtigkeit Menschen geradezu untergehen. In ihrer Langsamkeit beschreiben diese Kamerafahrten des sechsteiligen Kamerateams auch das Durchhaltevermögen, das im Kern des Klettersports steckt. 

Kirchwegers Film ist aber auch von Auslassungen geprägt. Gruppenleiterin Dörte beschreibt im Interview jedes Teammitglied durch individuell herausragende Fähigkeiten als Kletterinnen, ihre Rollen im Team und ihre Qualitäten als Sportlerinnen. Ähnlich ist es auch nicht Kirchwegers allererstes Anliegen, Einblicke in die Personen hinter den Alpinistinnen zu geben. Als Privatpersonen bleiben sie daher weitestgehend verborgen. Hier und da bekommen Zuschauer*innen kurze Eindrücke der Lebensabläufe der Kadermitglieder abseits des Kletterns. Diese kurz eingeschobenen Bilder aus dem Privaten beim Familienausflug oder in den eigenen vier Wänden vermitteln den Zuschauer*innen jedoch nur am Rande, wie und warum jede Kletterin für sich individuell überhaupt erst zum Klettern gekommen ist, sich für eine Teilnahme am Expeditionskader entschieden hat und, wie sich die Ausbildung in ihren Alltag mit Unistudium und Vollzeitarbeit einfügen lassen. So werden Punkte, die aufzeigen können für wen (und für wen nicht) Bergsport in erster Linie zugänglich ist (darunter z. B. Fragen nach benötigtem Zeitaufwand, finanzieller Sicherheit, familiärer Unterstützung oder körperlichen Voraussetzungen), bis zum Ende hin nicht thematisiert.  

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Disco Fox ist daher in erster Linie als Sportdoku und nicht als detailliertes Sportlerinnen-Porträt zu verstehen. Der Film wirft einen Blick in die Sparte Alpinismus, um die wenig repräsentierte Rolle von Kletterinnen im Bergsport allgemein zu beleuchten. Seine Stärke liegt in aufregenden Kamerafahrten, die die Faszination der hochgewachsenen Gesteinsmassen einfangen und seinem Fokus auf die Rolle von Teamwork im Bergsport, der das finale Erklimmen der Erstbesteigungsroute als gemeinsame Kraftanstrengung hervorhebt. Es ist übrigens auch diese erstmals durch den Kader erschlossene Kletterroute, die dem Film seinen Titel verleiht: Der von Luisa, Amelie, Lea, Carolin, Janina, Rosa und Dörte gewählte Routenname „Disco Fox“ erinnert nicht nur an die Berglandschaft Grönlands, in der das Team regelmäßig von einem diebischen Fuchs besucht wurde, sondern drückt auch die Freude über das gemeinsame Ankommen auf dem Berggipfel aus, das hoch oben ausgiebig mit Tanzeinlagen gefeiert wurde. 

 

Zunächst von der österreichischen Filmeditorin Kirchweger als Projekt innerhalb des DOK.lab 20/21 (die Autor*innenwerkstatt für nonfiktionale Projekte der Münchner Filmwerkstatt e.V.) weiterentwickelt, ist der Dokumentarfilm 2024 als Weltpremiere beim DOK.fest München zu sehen. 

Termine: 3., 5. und 11.05. an verschiedenen Münchner Spielorten und vom 6.-21.05. online verfügbar. 

Sabrina Vetter