Das Mädchen mit den goldenen Händen

Die Theater- und Kinoschauspielerin Katharina Marie Schubert legt mit Das Mädchen mit den goldenen Händen ihren ersten Langspielfilm als Regisseurin und Drehbuchautorin vor und widmet sich einer angespannten Mutter-Tochter-Beziehung, die sie im Jahr 1999 in einem tristen ostdeutschen Provinzstädtchen ansiedelt. Dort bereitet sich Gudrun (Corinna Harfouch) auf ihren 60. Geburtstag vor, zu dem ihre erwachsene Tochter Lara (Birte Schnöink) aus Berlin anreist. Zum runden Geburtstag der Mutter hat Lara ihr eine Rede geschrieben, die Gudrun jedoch nicht interessiert. Sie schreibt die Rede, die ihre Tochter bei dem Fest halten soll, vorsichtshalber selbst – und verhält sich ihrer Tochter gegenüber auch sonst belehrend und herablassend.

Ihre Geburtstagsfeier richtet die eigensinnige Gudrun in dem ehemaligen DDR-Kinderheim aus, in dem sie aufgewachsen ist. Doch während des Fests, zu dem das halbe Dorf erschienen ist, erfährt Gudrun, dass „ihr” Heim, ein mittlerweile sehr heruntergekommes Herrenhaus, an einen ortsfremden Investor verkauft werden soll, der ein Luxushotel daraus machen will. Für Lehrerin Gudrun bricht eine Welt zusammen. Verletzt und enttäuscht verlässt sie die Feier und lässt ihre Gäste zurück. Als Einzige setzt Gudrun sich von nun an dafür ein, das Heim zu erhalten – und wählt dafür auch unkonventionelle, blauäugige Mittel. So versucht sie etwa, das Haus für ein paar Mark bei der örtlichen Bank zu erwerben, bedenkt jedoch nicht, dass sie Millionen in die Sanierung stecken müsste. Parallel dazu macht sich Gudruns Tochter Lara, die mit ihrer Mutter und dem Stiefvater (Peter René Lüdicke) aufgewachsen ist, auf die Suche nach ihrem leiblichen Vater. Im Schlafzimmer ihrer Mutter stößt Lara auf ein Gemälde, das ihr einen neuen Anhaltspunkt liefert und sie zurück nach Berlin führt, wo sie ihre Nachforschungen beharrlich ohne die Hilfe ihrer Mutter fortsetzt.

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©2021 Wild Bunch

Mutter-Tochter-Konflikt

Wie schon in diversen anderen Filmen wie etwa in Jan-Ole Gersters Lara oder Caroline Links Im Winter ein Jahr spielt die großartige Corinna Harfouch auch in Das Mädchen mit den goldenen Händen eine hartherzig wirkende Mutter, deren Fassade im Laufe des Films zu bröckeln beginnt und deren Beweggründe vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte verständlicher werden. Gudrun, die in einem DDR-Kinderheim aufgewachsen ist und keine Mutter hatte, fällt es schwer, Zugang zu ihrer Tochter zu finden und ihre Gefühle für sie zu zeigen. Genauso fällt es auch Lara schwer, Verständnis für das abweisende Verhalten ihrer Mutter aufzubringen. Katharina Marie Schubert, die sechs Jahre an dem Drehbuch arbeitete, erzählt ihre Geschichte über ein angespanntes Mutter-Tochter-Verhältnis in zurückhaltendem Ton, ohne unnötige Worte oder zu einfache psychologische Erklärungen. Einiges deutet Katharina Marie Schubert nur an und lässt den Zuschauer:innen Raum für eigene Interpretationen.

In drei Kapiteln widmet sich Katharina Marie Schubert jeweils besonders einer Figur und ihrer Perspektive. Im ersten Kapitel geht es besonders um Gudrun, die zwar als egozentrische, „schlechte Mutter“ präsentiert wird, die sich nicht für die Bedürfnisse ihrer Tochter interessiert, jedoch insgesamt einen ambivalenten, vielschichtigen Charakter besitzt. Sie versucht alles, um ihr Zuhause zu retten, und kämpft dabei vor allem gegen männliche Entscheidungsträger wie den Bürgermeister, den Bankangestellten oder „die Investoren“, die sie nie zu Gesicht bekommt. Starrsinnig setzt Gudrun ihre Gesundheit aufs Spiel und geht schließlich sogar so weit, sich gegenüber Jens, dem Bürgermeister des Ortes (Jörg Schüttauf), ihrem ehemaligen Verehrer, in sexualisierter Weise übergriffig zu verhalten und ihn zu bedrängen. In der Hoffnung, so das Kinderheim erhalten zu können, fährt sie abends zu ihm, zieht sich mit den Worten „Wenn ich jetzt hier auf der Stelle mit dir schlafe, kriege ich dann das Kinderheim?” aus und setzt sich auf seinen Schoß, obwohl er sich vehement wehrt. Gudrun lässt nicht von ihm ab, bis Jens sie barsch wegstößt. Katharina Marie Schubert macht sich in dieser Szene nicht über ihre Filmfigur Gudrun lustig, sondern inszeniert sie als beharrliche, entschlossene Frau, die notfalls mit allen Mitteln für ihr Ziel kämpft und dabei auch die Grenzen anderer Menschen verletzt.

©2021 Wild Bunch

Im mittleren Teil des Films, dem Kapitel „Lara“, konzentriert sich Katharina Marie Schubert auf die Figur der Tochter, die ihren Vater sucht. Routiniert bewegt sich Lara in ihrem Berliner Umfeld, wo sie an einem Theater als Garderobiere arbeitet – und nebenbei einen Roman geschrieben und in einem renommierten Verlag veröffentlicht hat. Entschlossen kontaktiert Lara eine alte Freundin (Imogen Kogge) ihrer Mutter und bekommt wertvolle Hinweise von ihr, denen sie nachgeht. Mit Gudrun und parallel dazu mit Lara treiben zwei unbeirrbare, beharrliche Frauenfiguren die Handlung des ruhig erzählten Films maßgeblich voran.

Ostdeutschland der Nachwendezeit

Katharina Marie Schubert verbindet die Geschichte des Mutter-Tochter-Konflikts geschickt mit der einer ostdeutschen Kleinstadt in den Jahren nach der Wende. Gudruns Enttäuschung über den Weggang der Tochter nach Berlin spiegelt sich in ihrer Ernüchterung über ihre Freund:innen aus dem Ort, denen der Verkauf des Kinderheims an die ortsfremden Investoren nichts ausmacht und die ihn sogar befürworten, weil sie darin eine Chance für die Zukunft des Ortes sehen. Für Gudrun stellt das Heim dagegen ihr einziges Zuhause dar, an dem viele Erinnerungen hängen und das sie gern als Gemeinschaftsort für die Dorfbewohner:innen erhalten würde. Gesellschaftliche Probleme der Nachwendejahre spiegeln sich so in Konflikten im Freund:innenkreis und in der Familie.

Der rumänische Kameramann Barbu Bălăşoiu unterstützt durch seine in kühlen Farben gehaltenen Bilder, durch Totalen und lange, ruhige Einstellungen das Gefühl der emotionalen Kälte, der Verlorenheit und des Verlusts der Kindheit und des Zuhauses, das Gudrun und Lara auf jeweils eigene Weise empfinden. Auch das Szenenbild der Dresdnerin Juliane Friedrich wirkt stimmig und untermauert die Glaubwürdigkeit der Geschichte um die beiden Frauen und ihr jeweiliges Umfeld in der grauen Kleinstadt, in der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint, und in Berlin, wo Katharina Marie Schubert und ihr Team u.a. in der Volksbühne drehten. Für den Schnitt zeichnet Anja Pohl verantwortlich, die auch den Schnitt von Janna Ji Wonders‘ preisgekröntem Dokumentarfilm Walchensee Forever übernahm. Die größtenteils klassische Musik – wie etwa Variationen von Franz Schubert und Ausschnitte aus Peer Gynt – untermalt die wehmütig-melancholische Atmosphäre, die den Film durchweht.

©2021 Wild Bunch

Märchen als Deutungsebene

Das Mädchen ohne Hände, ein Märchen der Gebrüder Grimm, verleiht dem Film weitere mögliche Deutungsebenen. Im Märchen verkauft ein armer Müller seine Tochter unwissentlich an den Teufel – in der Hoffnung auf Reichtum. Im Film steht der Verkauf des DDR-Kinderheims an einen – vermutlich westdeutschen – namenlosen Investor Gudruns Wunsch gegenüber, ihr Zuhause als Ort der Begegnung für die Einheimischen zu erhalten. Lara wird zum Mädchen mit den goldenen Händen, als sie in den Habseligkeiten ihrer Mutter einen altmodischen Handspiegel und eine kleine Bürste findet, deren Goldstaub sich tagelang nicht von ihren Händen waschen lässt. So steht der Goldstaub in Verbindung mit Laras Suche nach dem Vater und zugleich mit der Vergangenheit ihrer Mutter – und ihrer eigenen. Das alte Märchen, das beide Frauen an ihre Kindheit erinnert, ist es schließlich, das Mutter und Tochter wieder zusammenführen könnte.

Vielschichtig und emanzipatorisch wertvoll

Katharina Marie Schubert kann sich neben den herausragenden Hauptdarstellerinnen Corinna Harfouch und Birte Schnöink auf routinierte Nebendarsteller:innen wie Gabriela Maria Schmeide, Imogen Kogge und Jörg Schüttauf verlassen – größtenteils Schauspieler:innen aus Ostdeutschland, die ihre eigenen Erfahrungen in der Nachwendezeit in ihr Spiel einfließen lassen konnten. Katharina Marie Schubert selbst lernte die DDR als Kind bei Verwandtenbesuchen kennen und kam so auf die Idee, einen Film über die Zeit nach der Wende zu machen. Dabei war es ihr besonders wichtig, eine komplexe Geschichte zu erzählen, die ohne zu oberflächliche Zuschreibungen auskommt. Sie recherchierte viel, las Bücher und sah Dokumentarfilme über die Zeit, in der ihr Film spielt, und ließ ihr Drehbuch immer wieder von Menschen gegenlesen, die Ende der Neunzigerjahre in Ostdeutschland lebten.

Nach der aktuellen „Fortschrittsstudie zur audiovisuellen Diversität“, initiiert u.a. von der MaLisa-Stiftung, nimmt der Anteil von Frauenfiguren im Kino, die älter als 30 Jahre sind, weiterhin ab. Mehr als zwei Drittel der Figuren mit einem Alter über 50 Jahren sind männlich. In Katharina Marie Schuberts emanzipatorisch wertvollem Kino-Spielfilmdebüt Das Mädchen mit den goldenen Händen stehen dagegen eine 60-Jährige und ihre Anfang 30-jährige Tochter im Mittelpunkt. Katharina Marie Schuberts Film überzeugt mit seinen beiden vielschichtigen und glaubwürdigen Protagonistinnen und der Verbindung aus politischen und persönlichen Konflikten und bewegt trotz oder vielleicht besonders wegen seines zurückgenommenen Tons.

Kinostart: 17.02.2022

Stefanie Borowsky
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