Berlinale 2024: Who Do I Belong To – Kurzkritik

Aicha (Salha Nasraoui) lebt mit ihrem Mann und drei Söhnen im ländlichen Tunesien. Eines Nachts verlassen die zwei älteren Söhne heimlich den Bauernhof, um sich dem sogenannten IS anzuschließen. Für Aicha beginnt ein komplizierter Prozess der Trauerbewältigung, denn nicht nur fürchtet sie um das Leben ihrer Kinder, gleichzeitig versucht sie auch deren Entscheidung für einen terroristischen Märtyrertod nachzuvollziehen. Es scheint wie ein Wunder, als Mehdi (Malek Mechergui) plötzlich wieder vor der Tür steht, körperlich unversehrt, wenn auch sichtlich von seinen Erlebnissen gekennzeichnet und in Begleitung seiner schwangeren Frau Reem (Dea Liane).___STEADY_PAYWALL___

© Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

Regisseurin Meryam Joobeur erzählt aus der Perspektive Aichas in einem Zwischenraum aus Traum und Realität, den zu dechiffrieren nicht abschließend gelingen kann. Naturbilder, extreme Close-Ups, ein enger Fokus, das Spiel mit Unschärfe und das die Figuren rahmende 4:3 Format erschaffen einen magisch-realistischen Mikrokosmos, in den das Publikum voll und ganz eintauchen kann. Dabei ist es vor allem eine Figur, die eine diffuse Beunruhigung oder gar Angst auslöst: Reem, in ihren Nikab* und weitgehend sprachlos, ihr eindringlicher Blick, die ausdrucksstarken Augen das einzige, das Aicha und wir von ihrem Gesicht erkennen können, wirkt zugleich tief traurig wie bedrohlich, wie ein surreales Mahnmal für Mehdis düstere jüngste Vergangenheit.* Eine Vergangenheit, mit der Frieden zu schließen bei aller Freude über seine Rückkehr für seine Eltern eine Herausforderung darstellt. Als im Umkreis der Familie immer mehr junge Männer verschwinden und sich eine vage Verbindung zu Reems Anwesenheit abzeichnet, nimmt Who Do I Belong To vorübergehend den Charakter eines Krimis oder gar Psychothrillers ein.

© Tanit Films, Midi La Nuit, Instinct Bleu

Mit ihrer starken Bildsprache, der dichten Atmosphäre und dem mysteriösen Plot weiß Meryam Joobeur ihr Publikum über die fast zwei Stunden Laufzeit an ihre Figuren und deren Geschichte zu fesseln. Durch den reduzierten Dialog und die Arbeit mit allegorischen Motiven eröffnet die Regisseurin einen Raum für Interpretationen und eine vielgestaltige emotionale Reaktion ihrer Zuschauer*innen. Who Do I Belong To auf eine Bedeutung festzulegen, ist somit weder zielführend, noch trägt diese Herangehensweise der Komplexität des Films Rechnung. Vielleicht ist Who Do I Belong To ein Film über den Abschied von lebenden Person und die Akzeptanz, dass Erfahrungen Menschen tiefgreifend verändern können, und dass diese Form des Verlusts einer einst geliebten und vertrauten Person kein Wiedersehen ermöglicht.

Aber vielleicht ist Who Do I Belong To auch ein Film über etwas anderes.

* Im tunesischen Kontext wurde der Nikab nach dem arabischen Frühling zum Symbol eines islamistischen Backlashs. Die Inszenierung der Figur Reem ist in diesem Kontext zu sehen.

Sophie Charlotte Rieger
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