Berlinale 2017: Berlin Syndrome
In ihrem neuen Spielfilm Berlin Syndrome ist die Handschrift von Regisseurin Cate Shortland nicht zu übersehen: Extreme Close Ups, Unschärfe, Handkamera, die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und eine junge Heldin auf der Flucht. Das Setting jedoch könnte unterschiedlicher nicht sein. Aus dem Blick in die Historie wird eine Inszenierung des zeitgenössischen Berlins und wo Lore seine Figuren durch die Weite der Natur wandern ließ, sperrt Berlin Syndrome seine Heldin das Gefängnis der Stadt – und das nicht im übertragenen Sinne.
Wie viele junge Menschen sucht auch die Australierin Clare (Teresa Palmer) in Berlin nach sich selbst. Statt Inspiration und Selbsterkenntnis aber findet sie Andi (Max Riemelt), ein Bild von einem Mann, charmant, klug, leidenschaftlich – und psychotisch. Was als große Urlaubsliebe beginnt, entwickelt sich zu einem Horrorszenario. Eingesperrt in einem verlassenen Berliner Altbau wird Clare zum Sehnsuchtsobjekt ihres Peinigers, der Liebe als Besitz und Beziehung als Kontrolle versteht.
Von der ersten Minute an verleiht Cate Shortland ihrem Film eine subtile Düsterkeit. Clare wirkt verloren und isoliert. Sie ist keine energiegeladene Travellerin, sondern eine verlorene junge Frau auf der Suche nach sich selbst. Mit dem Auftreten Andis kreieren Musik und Kameraführung umgehend eine zunehmend bedrohliche Atmosphäre. Die diffuse Gefahr nutzt Shortland zunächst noch gekonnt als Katalysator für Erotik. Fifty Shades of Grey könnte sich von diesen wahrhaft prickelnden Sexszenen eine große Scheibe abschneiden. Nicht nur Clare ist hin- und hergerissen zwischen Lust und Verunsicherung, auch die Zuschauer_innen werden mit widersprüchlichen Signalen angefüttert. Doch spätestens das vermeintlich leidenschaftliche Versprechen „No one will hear you“ lässt zumindest die Menschen in den Kinosätzen nun das Schlimmste erahnen.
Die wiederholten Close Ups auf sich schließende Schlösser, die explizite Erwähnung der nicht zu öffnenden Fenster in der Altbauwohnung – all das spricht eine fast schon zu deutliche Sprache. Max Riemelt jedoch verleiht seinem psychopathischen Alter Ego einen derartigen Charme, dass auch wir im Publikum unseren düsteren Ahnungen zunächst nicht recht glauben wollen.
Aber dann ist es zu spät: Clare und auch wir müssen einsehen, dass wir es mit einem gefährlichen Mann zu tun haben. Was zunächst zärtlich und liebevoll wirkte, entpuppt sich als krankhafte Obsession. In dem Bestreben sie mit Haut und Haar zu besitzen, fotografiert Andi seine Gefangene in unterschiedlichen Posen, meist aber pornographisch zerstückelt. Wie auch in Mainstream-Sexfilmen verkommt Clare durch diese Fragmentierung zu einer Ansammlung von Körperteilen, zu einem entmenschlichten Objekt.
Gleichzeitig vermeidet es die Regisseurin, mit ihrem Bösewicht gemeinsame Sache zu machen. Cate Shortland verzichtet komplett auf eine Inszenierung von sexualisierter Gewalt und reduziert die explizite Darstellung körperlicher Misshandlungen auf funktionales Minimum. Clares Körper ist deutlich sichtbar verletzt, hierin aber niemals ausgestellt und vor allem nicht sexualisiert. Wenn die Gefangene sich ihrem Peiniger erneut einvernehmlich hingibt, ist dies keine Legitimation seiner Taten, sondern ein Ausdruck ihrer Verzweiflung und Verwirrung, einer diffusen Abhängigkeit, vielleicht auch nur der Sehnsucht nach einem positiven Gefühl inmitten aller Angst und Qual.
Clare ist nicht die typische Opferfigur, vielmehr wehrt sie sich mit allen Mitteln dagegen, in diese Rolle gepresst zu werden. Lange noch versucht sie mit allen Mitteln zu entkommen, ist patzig und widerspenstig. Keine noch so kleine Chance, Andi zu entkommen, bleibt ungenutzt bis die Ausweglosigkeit ihrer Lage die Heldin mehr und mehr zu lähmen beginnt. Doch selbst in ihrer scheinbaren Akzeptanz der Situation liegt keine Selbstaufgabe, sondern ein Überlebenstrieb. Clare versteht, dass sie zwar ohne Andi niemals in dieser Wohnung gefangen wäre, dass sie diese aber ohne ihn auch niemals wird verlassen können.
Wo Clare als ungemein komplexe Figur auftritt, wirkt Andis Psychogramm bedauerlich platt. Weil die Mutter einst in den Westen „rübergemacht“ und die Familie verlassen hat, so suggeriert uns ein Dialog auf wenig subtile Art und Weise, muss Andi seine Frauen nun einsperren. Und das gelingt ihm deutlich besser als der DDR. Es ist wie der späte Sieg eines zum Scheitern verurteilten Systems. Nicht umsonst spielt diese Geschichte in Berlin, nicht umsonst ist sie mit dem Namen der einst geteilten Stadt betitelt, nicht umsonst begeistert sich die Heldin ausgerechnet für DDR-Architektur. Was sie zunächst mit ihrer Kamera einzufangen sucht, wird schließlich ihr Gefängnis – das ist ebenso pervers wie auch poetisch.
Es ließe sich darüber streiten, ob es denn wirklich den zigsten Thriller über einen männlichen* Psychopaten braucht, der ein zartes Frauchen* in seine Gewalt bringt, und ob die in dieser Geschichte omnipräsente Panikmache für allein reisende Frauen* denn unbedingt nötig ist. Auch über die so schön unschuldige Heldin mit ihrem orientierungslosen und liebesbedürftigen Dackelblick, der verdächtig an Bella Swan in den Twilight-Filmen erinnert, ließe sich trefflich diskutieren. Zugleich aber können wir uns auch über die Aneignung dieses meist in männlicher* Regie inszenierten Genres freuen, über die ungewöhnliche Frauen*figur, die sich so erfolgreich gegen ihre Opferrolle und Objektifizierung zur Wehr setzt. Und vor allem darüber, dass Cate Shortland uns mit dem diesem Thriller wahrlich packende Kinounterhaltung geschenkt hat.
Kinostart: Frühjahr 2017
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