Abtreibung in Never Rarely Sometimes Always und Dirty Dancing

Auf den ersten Blick scheint es, dass der Film Dirty Dancing (1987) von dem Regisseur Emile Ardolino und nach dem Drehbuch von Eleanor Bergstein und der Film Never Rarely Sometimes Always (2020) von Eliza Hittman nicht viel gemeinsam haben. Dirty Dancing, ein US-amerikanischer Tanzfilm, der eine Romanze zwischen der jungen Frances, genannt Baby (Jennifer Grey), und dem Tanzlehrer Johnny (Patrick Swayze) zeigt, und Never Rarely Sometimes Always, ein Filmdrama, das die Geschichte der Teenagerin Autumn (Sidney Flanigan), erzählt, die den Prozess einer Abtreibung durchlebt. Doch schauen wir etwas genauer hin, gibt es eine Handlungsstrang in Dirty Dancing, der sich sehr gut vergleichen lässt: Eine durchgeführte Abtreibung bei der Tanzlehrerin Penny (Cynthia Rhodes). 

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Der historische Hintergrund

Dabei gibt es einige Aspekte, die sich in der Darstellung dieses Themas ähneln. Aber natürlich auch unterscheiden. So muss zunächst folgender grundlegender Unterschied genannt werden: die Zeit, in der diese beiden Filme spielen. Dirty Dancing erscheint zwar 1986, spielt aber im Jahr 1963, Abtreibung ist zu der Zeit in den USA illegal. Wann der Film Never Rarely Sometimes Always spielt, ist nicht ganz eindeutig, einige Faktoren deuten aber auf die Zeitspanne zwischen 2010 und 2020 hin. Abtreibung ist unter bestimmten Bedingungen in den USA legal und es gibt die Möglichkeit, Abtreibungskliniken zu besuchen. Allerdings ist eine Abtreibung unter den aktuellen legalen Bestimmungen und dem Aspekt, dass sich Abtreibungsgesetze stets ändern können, nicht zwangsläufig einfach durchzuführen und wird auch nicht automatisch bedingungslos unterstützt. Zudem ist Autumn minderjährig und in Pennsylvania, wo sie wohnhaft ist, benötigt sie die Zustimmung ihrer Eltern. Somit passiert eine Abtreibung in den beiden Filmen auf unterschiedlichen Grundlagen, allerdings gibt es im Umgang und Thematisierung von Abtreibung trotzdem so einige Überschneidungen.

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Die Rolle des sozialen Umfelds

Weder Autumn noch Penny bekommen in den Filmen Unterstützung von ihrem familiären Umfeld oder den Erzeugern. Beide cis Frauen sind mit ihrer finanziellen Situation und der Tatsache ungewollt schwanger zu sein zunächst auf sich gestellt. Auf unterschiedliche Art und Weise bekommen sowohl Autumn als auch Penny eine bedingungslose Unterstützerin: Baby für Penny und Skylar (Talia Ryder) für Autumn. Beide Frauen müssen sich bei ihrer Unterstützerin nicht für ihre geplante Abtreibung rechtfertigen. Es gibt hier keinen Raum für die Frage nach der Moral oder Ethik, die allzu gerne in der Diskussion zu Abtreibungen im Fokus steht. Skylar organisiert Geld und begleitet Autumn über den gesamten Prozess der Abtreibung, ohne diesen zu Hinterfragen. Baby organisiert ebenfalls Geld und springt für Penny beim Tanzen ein. Beide Filme schaffen es, dass diese Unterstützung nicht laut ausgesprochen werden muss.

Die Frage der Moral

Auch wenn die Unterstützerinnen der beiden Frauen keine moralische Frage stellen, wird diese aber im Film Never Rarely Sometimes Always durch unterschiedliche Szenen deutlich. So bietet die erste Arztpraxis, die Autumn besucht, Abtreibung nicht als Option an und macht deutlich, Abtreibung sei moralisch verwerflich. Auch eine Szene mit einer Demonstration von Abtreibungsgegner*innen, wirft subtil Abtreibung als moralisches Thema auf. Die Geschichte von Autumn, ihre Verzweiflung, die der Film durch ihre Emotionen widerspiegelt, ihre Handlungen und ihre Hintergrundgeschichte, ersticken diese moralische Frage allerdings. Dirty Dancing im Gegensatz dazu lässt diese moralische Frage erst gar nicht zu: Hier wird die Verantwortung primär beim Erzeuger und seinem Verhalten gesehen. 

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Emotionale Welten

Beide Filme stellen die gleichen Emotionen der beiden Frauen auf unterschiedliche Weise dar. In erster Linie ist eine Emotion dominierend, die sich bei beiden Frauen durch ihre emotionale Gefühlslage, aber vor allem auch durch ihre Handlung ausdrückt: Verzweiflung. In beiden Filmen gibt es eine Szene, in der die Frauen aus Verzweiflung weinen: Penny hat einen Zusammenbruch in der Küche des Ferienresorts, wo der Film spielt, und liegt weinend auf dem Boden. Autumn boxt sich selbst unter Tränen in ihren Bauch. Vor allem Autumns Verzweiflung drückt sich eher durch ihre Handlungen aus: Sie reist alleine mit ihrer Cousine Skylar nach New York, sie haben nur wenig Geld und um die mehrtägige Behandlung durchführen zu lassen und damit ihre Familie nicht davon erfährt, nimmt sie in Kauf auf der Straße zu schlafen. Abgesehen von ihren Handlungen ist Autumns Gefühlswelt im Laufe des Films eher monoton, sie zeigt wenig bis keine Tränen, kein Lachen oder Lächeln und spricht auffällig wenig. Die Bedrückung kommt auch bei den Zuschauenden an. Penny hingegen hat eine größere Palette an Emotionen, die aber alle in die Verzweiflung einzahlen: Trauer, Wut, Verachtung, Freude (vor Erleichterung), Angst. Aber auch hier zeigen ihre Handlungen die Verzweiflung: Sie bezahlt eine hohe Summe Geld an einen Arzt für die Abtreibung, der am Ende ein “Pfuscher” ist und mit seinem Eingriff ihr Leben gefährdet. 

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Was kann Never Rarely Sometimes Always, was Dirty Dancing nicht kann

Dirty Dancing erreicht nicht die Intensität, mit der der Film Never Rarely Sometimes Always das Thema Abtreibung behandelt. Der Tanzfilm kann die Verzweiflung von Penny und die Frage nach der Ethik abbilden, allerdings unterscheiden sich die Filme eindeutig in ihrer Perspektive auf das Thema. Im Film Never Rarely Sometimes Always bildet das Thema Abtreibung und der legale Prozess einer Abtreibung den Haupthandlungsstrang. Zudem liegt der Fokus hier auf der Minderjährigkeit und dem schwerfälligen Prozess der einzelnen Etappen, die Autumn durchlaufen muss bis sie schließlich auf legalem Weg eine Abtreibung erhält. Außerdem behandelt der Film sexuellen Missbrauch und die Rolle der Männer in der Einschränkung der reproduktiven und sexuellen Selbstbestimmung von jungen Frauen und hinterlässt damit bei den Zuschauenden ein Gefühl von Unbehagen. Eine (junge) Frau zu sein ist hier eine Herausforderung.

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Auch können die Zuschauer*innen dem Thema Schwangerschaftsabbruch gedanklich nicht entfliehen, denn es bildet eben die Storyline von Never Rarely Sometimes Always. Dirty Dancing ist im Gegensatz eindeutig kein Film über Schwangerschaftsabbrüche, sondern ein Liebesfilm. Zwar hat die Drehbuchautorin Eleanor Bergstein die Abtreibung so geschickt in den Film eingebaut, dass diese ein notwendiger Part der Storyline ist und nur durch die Abtreibung von Penny Baby überhaupt zum Tanzen kommt, allerdings droht die Abtreibung in Vergessenheit zu geraten, gerade weil sie so geschickt in einen Unterhaltungsfilm eingearbeitet ist. Katy Brand (2021) beschreibt in ihrem Buch I Carried A Watermelon diese Tatsache als sehr positiv, da die Zuschauer*innen sich an Penny als wunderschöne und talentierte Tänzerin erinnern und nicht an eine traumatisierende Abtreibung. Allerdings steht jetzt das Argument im Raum, dass dieser Handlungsstrang vielleicht nicht offensichtlich genug ist. Vor allem da er von Pro-Choice campaigners als “gold standard” bezeichnet wurde (vgl. Katy Brand, S. 137): Es gibt keine Verurteilung, Gesundheit hat Priorität, Penny kann danach wieder Kinder bekommen und der Film gibt ihr weder die Schuld noch beschämt er sie.  Insgesamt wirkt die Abtreibung also wenig dramatisch, findet eher subtil statt – auch ohne aktiv als solche benannt zu werden. Die Präsenz des Themas scheint insgesamt zu gering, um lange im Gedächtnis zu bleiben. Andererseits hätte der Film vielleicht nicht dieselbe Reichweite erlangt, wäre die Szene „aufdringlicher“ gewesen. Unabhängig von einer Begründung bleibt es schade, dass solch ein wichtiger Teil der Storyline und auch der Selbstbestimmung in Vergessenheit gerät. Vor allem, weil es Eleanor Bergstein besonders wichtig war darauf aufmerksam zu machen, dass Abtreibung nicht schon immer zugänglich war, dass unser Recht auf Abtreibung fragil ist und nicht als Selbstverständlich genommen werden kann – und das ist heute mit Blick auf die Rechtslage in den USA und Deutschland  auch im Jahr 2024 noch relevant.

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Seminars „Film und Feminismus“ an der TU Berlin im Sommersemester 2024 unter der Leitung von Filmlöwin-Gründer*in Sophie Charlotte Rieger.


Foto: privat

Mira Aring studiert Sprache und Kommunikation an der TU. Sie setzt sich gerne mit gesellschaftskritischen Themen auseinander, was ihr durch ihr Studium vor allem auf linguistischer Ebene gelingt. Ansonsten schreibt Mira gerne — sowohl privat und für die Uni als auch für die Arbeit.