Venedig 2013: Via Castellana Bandiera (A Street in Palermo)
Aus einer Mücke einen Elefanten machen – diese Redewendung könnte der Untertitel des italienischen Spielfilms Via Castellana Bandiera von Emma Dante sein. Denn eigentlich beginnt alles mit einem vollkommen banalen Ereignis: Zwei Autos fahren aus unterschiedlichen Richtungen in eine schmale Gasse ein und stehen sich gegenüber. Nun sagt uns der gesunde Menschenverstand, eine der beiden Parteien müsse zurücksetzen und die andere hindurchlassen. Doch der gesunde Menschenverstand hat gerade Urlaub, denn in den beiden Fahrzeugen sitzen ausgerechnet zwei Frauen*, die sich an Sturheit gegenseitig übertreffen. Und so bleibt das höfliche Ausweichmanöver aus. Stattdessen schaltet sich alsbald die Nachbarschaft in den Konflikt ein und beginnt Wetten darüber abzuschließen, welche der Fahrerinnen nachgeben wird. Dabei geht es weder der einen noch der anderen wirklich um die Frage der Vorfahrt. Die unangenehme Verkehrssituation ist vielmehr die Bühne, auf der private Konflikte ausgetragen werden.
Via Castellana Bandiera schüttelt sein Publikum mit einer wackligen Handkamera und einem zunächst unübersichtlichen Wechsel verschiedener Erzählstränge ordentlich durch, bevor die beiden Parteien aufeinandertreffen und durch den Stillstand der Vehikel auch in die Geschichte Ruhe einkehrt. In einem der Wagen sitzt Rosa (Regisseurin Emma Dante, die hier auch die Hauptrolle spielt) neben ihrer Lebensgefährtin Clara (Alba Rohrwacher), mit der sie gerade einen scheinbar hoffnungslosen Beziehungsstreit ausficht. Ihr gegenüber thront die Großmutter Samira (Elena Cotta), ihrerseits frustriert von den Demütigungen des dominanten Schwiegersohns, denen sie seit dem Tod der Tochter ausgesetzt ist. Die Entschlossenheit, mit der sie sich am Steuer festklammert, wirkt, als sei dies das letzte Aufbäumen einer Frau*, die dem Tod bereits näher steht als dem Leben.
Mit der Einmischung der Anwohner_innen werden die Ereignisse vorübergehend wieder chaotischer und entwickeln in ihrer Absurdität zuweilen komödiantische Züge. Die jedoch lassen sich nur schwer in die pseudodokumentarische Inszenierung der Handkamera und der auffällig langen Einstellungen einordnen. Wenn Rosa und Samira sich schließlich mitten in der Nacht auf der Straße gegenüberstehen, wirken sie fast wie zwei verfeindete Cowboys beim Showdown, nur dass zwischen den Frauen im Grunde gar kein Konflikt existiert. Ihre Wut gilt nicht der jeweils Gegenüberstehenden. Der Zufall (oder das Schicksal?) dieser Begegnung besteht darin, dass die Großmutter Samira ihre erwachsene Tochter schmerzlich vermisst und Rosa ihrerseits die eigene Mutter seit Jahren meidet. An diesem unglückseligen Tag in der kleinen Seitenstraße von Palermo dienen die Frauen* sich gegenseitig als Projektionsfläche für Frustrationen und Verletzungen anderen Ursprungs. Die Durchfahrt hat dementsprechend für beide Parteien auch eine symbolische Bedeutung.
Die unbeugsame Haltung beider Frauen* ist ohne Frage ein absurdes Moment, das durch die optische Ausbreitung der Straße eine Steigerung erfährt. Die zunächst enge Gasse weitet sich im Laufe des Films immer mehr, bis die Fahrzeuge schließlich ohne Weiteres aneinander vorbei fahren könnten. Dass sie es nicht tun, ist ein weiteres Zeichen für den stellvertretenden Charakters dieses Schlachtfelds.
Warum Rosa und Samira so verbissen an ihrer Vorfahrt festhalten, dafür sogar auf Nahrung und den Gang auf die Toilette verzichten, will Regisseurin Emma Dante offenbar nicht im Detail erklären. Die Lebenssituationen der beiden Fahrerinnen liefern verschiedene Anhaltspunkte, doch leider setzen sich diese Hinweise nur ungenügend zu einem Gesamtbild zusammen.
Wenig überraschend endet die Geschichte schließlich in der Katastrophe. Ein Mensch stirbt und Nachbar_innen kommen von überall dazu gelaufen. Eine minutenlange finale Einstellung zeigt den abschüssigen Straßenabschnitt, inzwischen mehrere Meter breit, den die Schaulustigen passieren. Frauen*, Männer*, Kinder, Lahme – selbst eine Taube hüpft nervös von einer Straßenseite zur anderen, während schon der Abspann läuft. Es scheint, als habe das gesamte Drama um die Straßendurchfahrt nur dazu gedient, die Bewohner dieses Stadtviertels endlich zu mobilisieren. Wo vorher absoluter Stillstand herrschte, ist nun Bewegung.
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