Sheri Hagen über Diversität, die „künstlerische Freiheit“ und Othering im Film

Interview von Canan Turan mit Sheri Hagen, geführt am 28.03.2023 für Vision Kino

Sheri Hagen - Regisseurin und Schauspielerin aus Berlin.

© Hardy Brackmann

Canan Turan: Sheri, du bist Teil der Schwarzen Filmschaffenden. Erzähl doch bitte, wer ihr seid, warum ihr dieses Netzwerk gegründet habt und was eure Ziele sind?

Sheri Hagen: Wir haben uns als Schwarze Filmschaffende zuerst als Initiative und dann als Verein zusammengeschlossen, um den Missstand anzugehen, dass wir immer noch zu wenig Sichtbarkeit und Zugänge vor und hinter der Kamera haben. Wir wollen, dass unsere vielfältigen Lebensrealitäten im deutschen Film und Fernsehen facettenreich widergespiegelt werden. Für uns gibt es Diversität nur auf intersektionaler Basis. Wir haben unterschiedliche Herkünfte, soziale Stellungen, Behinderungen, Geschlechter, sexuelle Orientierungen und Begehren. Doch das sieht man in der filmischen Darstellung von Schwarzen viel zu selten. Wir wollen unsere eigenen Geschichten schreiben, produzieren und inszenieren und, dass unsere Projekte gefördert werden. Wir wollen auch in der deutschen Filmbildung, also auch bei Vision Kino, vertreten sein. Wir haben ein Recht auf Kultur und Teilhabe, nicht zuletzt, weil wir die Filmwirtschaft durch GEZ-Gebühren und Steuergelder mitfinanzieren.

Canan Turan: Aktuell wird mehr als je zuvor öffentlich über Diversität beim deutschen Film diskutiert. Der Begriff wird jedoch oft sehr unterschiedlich ein- und umgesetzt. Wie sollte Diversität im Film deiner Meinung nach aussehen? Und was bedeutet Diversität nicht für dich?

Sheri Hagen: Diversität ist definitiv nicht für mich, wenn eine BI_POC Figur ein paar Zeilen zu sprechen bekommt und/oder nur im Hintergrund rumläuft. Diversität sollte es auf allen Ebenen geben, im Programm, beim Personal, im Publikum und bei den Zugängen. Wir glauben aber nicht nur an die Vielfalt bei den Menschen, sondern auch in den Narrativen, den Erzählformen und in der Ästhetik. Das ist uns sehr wichtig, weil wir merken, dass eine bestimmte Filmästhetik von der Mehrheitsgesellschaft, also von der weißen Norm, gefordert wird, die insbesondere durch das Fernsehen formatiert worden ist. Als Schwarze Filmschaffende wollen wir auch unsere unterschiedlichen Ästhetiken gewährleistet sehen. Es geht uns auch um Genrevielfalt und genreübergreifendes Erzählen. Es sollte möglich sein, dass mein Film eben nicht so aussehen muss, wie Tante Erna von nebenan es gewohnt ist. Nur so können wir unsere Seh- und Hörgewohnheiten wirklich erweitern.

„Die künstlerische Freiheit ziehen viele als Trumpfkarte, wenn Sie Angst haben, dass Ihnen etwas weggenommen wird, dass sie zu kurz zu kommen, dass sie Macht abgeben und Räume teilen müssen.“

Canan Turan: Einige Filmemacher*innen und Filmförderanstalten äußern sich auch abwehrend gegen die Forderung nach Antirassismus im Kino, wie zuletzt das Norwegian Film Institute mit einem offenen Brief an ARTEF, die Anti-Racism Taskforce for European Film, nach ihrem Protest gegen den Animationsfilm Just Super (Originaltitel: Helt Super) bei der Berlinale. Sie behaupten, die „künstlerische Freiheit“ sei dadurch gefährdet worden. (Auf diesen Film machte ich ARTEF aufmerksam, nachdem ich bei Generation abgelehnt hatte, die Moderation des Filmgesprächs zu übernehmen. Die Festivalleitung der Berlinale ließ den Film trotz unserer Kritik im Programm laufen.) Was, glaubst du, ist hier mit „künstlerischer Freiheit“ gemeint?

Sheri Hagen: Ich bin wirklich dankbar dafür, dass du das getan hast, und auch für das Statement von ARTEF, weil es auf den Punkt genau richtig ist, Empathie zeigt und sich für Equity & Inclusion stark macht. Die künstlerische Freiheit ziehen viele als Trumpfkarte, wenn Sie Angst haben, dass Ihnen etwas weggenommen wird, dass sie zu kurz zu kommen, dass sie Macht abgeben und Räume teilen müssen. Sie wird als Argument benutzt, um zu verteidigen, dass sie weiterhin rassistische und diskriminierende Inhalte, Bilder und Sprache reproduzieren dürfen. Jede Person, die sagt, dass sie sich in ihrer künstlerischen Freiheit eingeschränkt fühlt, sobald es um Diversität geht, entlarvt sich dadurch selbst. Denn wer klug ist, weiß, dass Diversität nur eine Chance und bereichernd ist. Interessant ist auch, dass die künstlerische Freiheit nicht für BI_POC Filmschaffende gilt: Wenn wir von der weißen Norm abweichen, heißt es, unsere Arbeit sei „qualitativ nicht stark genug“ oder unsere Ästhetik sei „schlecht“.

„Wenn ich einen Film mit Menschen aus einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft realisieren will und selber nicht Teil dieser Gruppe bin, dann muss ich mir überlegen: Bin ich in der Lage diese, deren Geschichte zu erzählen, ohne sie zu diskreditieren und Othering zu betreiben? Kann ich dafür sorgen, dass sie sich als Zuschauende in meinem Film wiederfinden, sich gesehen und gehört fühlen?“

Canan Turan: Findest du es wichtig, wer welche Geschichten und über wen erzählt? Welche Rolle spielen die Identitäten, Perspektiven, Lebens- und Erfahrungswelten für Stoffentwicklung und Regie?

Sheri Hagen: Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch eine Geschichte erzählen kann und darf. Die Frage ist, wie man sie erzählt, welches Thema man sich aussucht und ob es um Dritte geht. Wenn ich einen Film mit Menschen aus einer bestimmten Gruppe der Gesellschaft realisieren will und selber nicht Teil dieser Gruppe bin, dann muss ich mir überlegen: Bin ich in der Lage diese, deren Geschichte zu erzählen, ohne sie zu diskreditieren und Othering zu betreiben? Kann ich dafür sorgen, dass sie sich als Zuschauende in meinem Film wiederfinden, sich gesehen und gehört fühlen? Wenn mir dafür die Kenntnisse oder die Zeit für die Recherche fehlen, dann hole ich mir eine*n Co-Autor*in an meine Seite. Das ist für mich selbstverständlich, und so mache ich das auch selber bei meinem aktuellen Projekt Motherhood. Othering schafft Single Stories über bestimmte Gruppen, wie Chimamanda Ngozi Adichie in ihrem TED Talk The Danger of a Single Story sagte, und die manipulieren das Publikum. Das ist oft der Fall bei Geschichten, die über BI_POC aus der Perspektive der weißen Norm erzählt werden.

Canan Turan: Lass uns nun über ein konkretes Beispiel reden: Der vermessene Mensch (2023) wurde in allen wichtigen Positionen (Regie, Produktion, Drehbuch, Kamera, Schnitt etc.) von weißen männlichen Filmschaffenden besetzt. Der Film feierte Premiere auf der diesjährigen Berlinale. Was waren deine ersten Gedanken und Reaktionen, als du ihn gesehen hast?

Sheri Hagen: Ich habe den Film als Jurymitglied in der Vorauswahl für den Deutschen Filmpreis gesehen und war einfach geschockt. Das war sehr schmerzhaft, wie ein Schlag ins Gesicht. Zum Schluss dachte ich „Schade, Chance vergeben“, weil die deutsch-koloniale Geschichte und der Genozid an den Ovaherero und Nama in diesem allerersten Film dazu rein aus der Täterperspektive erzählt wird. Regisseur Lars Kraume hätte hier mit einer*einem Co-Autor*in zusammenarbeiten müssen, aber er meinte leider, dass er das allein konnte. Und das war ein Trugschluss. Wenn wir Pech haben, bekommen unsere Kinder diesen Film in den Schulen zu sehen und werden weiter traumatisiert — und die anderen stumpfen weiter ab. Das muss verhindert werden!

„Der Film ist süßlich-gefährlich, weil er vorgibt, die deutsch-koloniale Geschichte zu erzählen, aber in Wahrheit nur Lars Kraumes Perspektive auf die Geschichte zeigt“

Canan Turan: Über die deutschen Kolonialverbrechen an den Ovaherero und Nama mangelt es bis heute an Wissen und einem kritischen Bewusstsein in der deutschen Gesellschaft. Das hängt zweifellos auch damit zusammen, dass der Genozid an ihnen lange nicht an Schulen behandelt wurde und Deutschland ihn erst 2015(!) offiziell anerkannt hat. Glaubst du, dass Der vermessene Mensch in dem Kontext zu einem dekolonialen Diskurs beitragen kann?

Sheri Hagen: Ganz klar nein. Der Film ist süßlich-gefährlich, weil er vorgibt, die deutsch-koloniale Geschichte zu erzählen, aber in Wahrheit nur Lars Kraumes Perspektive auf die Geschichte zeigt. Ein wirkliches Interesse an den Ovaherero und Nama und an dem Genozid erkenne ich darin nicht, denn das Thema wird hier zur Kulisse und ist damit austauschbar. Kraume versucht außerdem mit jedem Bild und jedem Wort dafür zu sorgen, dass wir als Zuschauende Empathie für die Täter empfinden. Soll ich als Schwarze Deutsche mit einem selbstgerechten, opportunistischen Grabschänder und Mörder Mitleid empfinden? Oder zu einem Söldner, der eine Schwarze Frau und Mutter mit Kind knallhart erschießt und danach Tränen in den Augen hat?

Steven Spielberg lässt in Schindlers Liste (1993, USA) im Vergleich dazu die Täter auch Täter sein. Er zeigt sie facettenreich, aber nicht so, dass man mit ihnen Empathie empfinden kann, er zeigt ihre emotionale Kälte. Und er zeigt natürlich auch die jüdischen Menschen, ihre Kultur, ihren Schmerz, ihr Leid, ihre Flucht und ihren Widerstand. Das alles sehen wir in Kraumes Film über die Ovaherero und Nama nicht. Stattdessen tauchen sie in ihrem eigenen Land nur als Statist:innen in ihrer eigenen Geschichte und in ihrem eigenen Leid auf. Der Film wird als divers bezeichnet, dabei wird hier exemplarisch Diversität missbraucht.

Canan Turan: Welche politische Haltung und Botschaft vermittelt Der vermessene Mensch deiner Meinung nach?

Sheri Hagen: In dem Film werden nicht nur die Ovaherero und Nama und alle Schwarzen in der Welt diskreditiert. Wenn du dich als Regisseur für einen Protagonisten entscheidest, der einem menschenverachtenden System dient, ihn als ein Antiheld verkaufst, der sein Gewissen opfert, um sein eigenes Wohl abzusichern, und du den Film konsequent aus dieser Perspektive erzählst, dann sagst du dem Publikum damit: „Leistet keinen Widerstand! Bückt euch! Dient einem totalitären, rassistischen System! Wenn ihr weiterleben wollt, wenn euch euer eigenes Leib und Wohl am Herzen liegt, dann seid still und fügt euch!“ Ich finde das 2023, nach #MeToo, nach Black Lives Matter, jetzt mit dem Ukrainekrieg und all den Despoten auf der ganzen Welt, die versuchen die Menschen so zu formen, dass sie sich gefügig machen und mitlaufen, einfach die falsche Botschaft, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Ich will nicht, dass meine Kinder lernen, dass sie keinen Widerstand leisten sollen, wenn sie Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Rassismus erleben.

Canan Turan: Lars Kraume sagte in unterschiedlichen Publikumsgesprächen und Interviews, dass er als weißer deutscher Regisseur nur die Täterperspektive erzählen konnte, weil ein Film aus der Perspektive der Ovaherero und Nama „kulturelle Aneignung“ gewesen wäre. Siehst du das auch so?

Sheri Hagen: Das ist eine schöne, gelernte Floskel, die er da benutzt. Aber die Aussage stimmt nicht, denn durch den Film hat sich Kraume sehr wohl die Geschichte, die Kultur und das Leid der Ovaherero und Nama angeeignet. Dabei arbeitet er ganz geschickt mit dem Tool der Unsichtbarkeit und der Auslassung, womit man sich eine Kultur ebenso aneignen kann. Der Film erklärt die Ovaherero und Nama quasi für kulturell nicht existent. Film sollte Welten öffnen und nicht schließen. Doch Der vermessene Mensch schließt die Welt für die Ovaherero und Nama, denn wir lernen sie nicht kennen. Dabei wäre es so wichtig gewesen, eine gleichwertige Geschichte zu erzählen, weil eine Medaille immer aus zwei Seiten besteht. In diesem Film sehe ich nur die eine Seite, aber die zweite hätte mich wesentlich mehr interessiert – also den Schmerz der Ovaherero und Nama repräsentiert zu sehen. Ich empfehle in dem Kontext Lars Kraume und anderen Chimamanda Ngozi Adichies Keynote Europe Is Trying To Erase Its Brutal Colonial Past | A History Lesson In Berlin.

„Die weiße Zuschauerschaft ist inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass Schwarze Körper, Schwarze Menschen, Schwarze Lebensrealitäten in Filmen ständig diskreditiert und stereotypisiert werden und dass rassistische Bilder über sie reproduziert werden, dass sie all das gar nicht mehr erkennen.“

Canan Turan: Auf der diesjährigen Berlinale lief neben dem bereits erwähnten problematischen Animationsfilm Just Super aus Norwegen in der Generation Sektion auch die deutsche Produktion Seneca bei Berlinale Special. Inwiefern reproduziert auch dieser Film Rassismus?

Sheri Hagen: Filme wie Der vermessene Mensch und Seneca zeigen die Misere, in der die deutsche Filmbranche steckt. Ich weiß nicht, ob hier Schwarze im Publikum mitgedacht wurden, die auch ganz normal ins Kino gehen und zuschauen wollen. Das ist nicht mehr lustig, es tut nur weh. Und die andere Seite sieht das nicht. Die weiße Zuschauerschaft ist inzwischen so sehr daran gewöhnt, dass Schwarze Körper, Schwarze Menschen, Schwarze Lebensrealitäten in Filmen ständig diskreditiert und stereotypisiert werden und dass rassistische Bilder über sie reproduziert werden, dass sie all das gar nicht mehr erkennen. Sie sehen es nicht als problematisch, dass in Seneca Schwarze Kinder mit römischen N-Wörter bezeichnet werden, bevor sie geschlachtet werden, oder dass da eine kulturelle Aneignung durch ein abstraktes Blackfacing stattfindet. Robert Schwentke zeigt die Unmenschlichkeit selber mit einer Unmenschlichkeit, indem er sie dermaßen herausstellt und zelebriert. Doch dafür haben viele nicht den kritischen Blick.

An der Reaktion der Festivalleitung der Berlinale, die die Kritik an Just Super nicht verstanden hat, siehst du: Sie wollten einfach nur, dass ihr Festival läuft, dass die Leute gute Laune haben und dass tolle Filme Preise bekommen. Es ist, als würden sie einem damit sagen: „Lasst uns bitte in Ruhe! Nervt uns nicht mit eurer Diversität und Vielfalt! Wir wollen zwar eine diversitätsbewusste Filmindustrie, aber bitte nicht zu viel. Und seid auch nicht zu laut und nicht zu kritisch! Macht doch einfach mit! Wir laden euch ja ein, ihr dürft auf der Bühne stehen und moderieren, ihr dürft im Zuschauerraum sitzen und zugucken, wie kreativ wir sind. Aber mehr bekommt ihr nicht!“ Das reicht uns aber nicht!


Über Sheri Hagen

Sheri Hagen - Regisseurin und Schauspielerin aus Berlin.

© Hardy Brackmann

Sheri Hagen ist eine Regisseurin und Schauspielerin aus Berlin. Neben zahlreichen Arbeiten für Film und Fernsehen wirkte sie in verschiedenen Theaterproduktionen mit. Als Drehbuchautorin und Regisseurin trat sie 2007 erstmals mit dem Kurzfilm Stella und die Störche in Erscheinung. 2010 folgte ihr Spielfilmdebüt Auf den zweiten Blick. 2015 gründete Sheri Hagen die Produktionsfirma Equality Film GmbH, die sich darauf konzentriert besondere Geschichten zu erzählen, die die vielfältigen Lebensrealitäten der deutschen Gesellschaft widerspiegeln. In ihrem zweiten Spielfilm Fenster Blau (2016) adaptierte Sheri Hagen das Theaterstück – Muttermale Fenster Blau – von Sasha Marianna Salzmann. Sheri Hagen bereitet derzeit die Spielfilme Billie und Motherhood vor. In der Entwicklung ist die Serie Kehinde und der Kurzfilm Auf Wiedersehen.