„Der vermessene Mensch“ — ein antirassistischer Film?

“It’s like saying: ‘Well, until the white man
comes to any place, nothing lives. It’s only
when he comes and says ‘I have discovered
you, now you exist’, which is ridiculous.“
Miriam Makeba[1]

DER VERMESSENE MENSCH ist der erste Kinofilm, der von dem Genozid an den Ovaherero und Nama im heutigen Namibia handelt, der zwischen 1904 und 1908 durch das deutsche Kaiserreich verübt wurde und bei dem nach Schätzungen bis zu 100.000 Menschen[2] starben. Über dieses schreckliche Kolonialverbrechen, in die auch die Ethnologie verwickelt war, gibt es in der deutschen Gesellschaft viel zu wenig Bewusstsein und Diskussionen. Möglicherweise kann der Film dazu anregen. Doch aus welcher Perspektive wird die Geschichte erzählt? Wessen Erfahrungen marginalisiert der Film? Und welche Haltung nimmt er gegen Rassismus ein?

Zum Inhalt
1896 findet in Berlin die erste deutsche „Völkerschau“ statt, bei der Afrikaner:innen aus unterschiedlichen Ländern für das weiße deutsche Publikum ausgestellt werden, ähnlich wie Tiere im Zoo. Die Studenten des Ethnologie-Professors von Waldstätten, unter ihnen der Doktorand Alexander Hoffmann, führen dort Vermessungen an den Köpfen der Ovaherero und Nama durch. Hoffmann ist fasziniert von der gebildeten und selbstbewussten Dolmetscherin Kunouje Kezia Kambazembi. Anhand ihres Beispiels will er die Theorie von der vermeintlichen biologischen Überlegenheit von Weißen gegenüber Schwarzen widerlegen. 1904 wird Hoffmann Teil einer Expedition in „Südwestafrika“, während der antikoloniale Aufstand der Ovaherero und Nama von den kaiserlichen Truppen niedergeschlagen wird. Diese führen unter General von Trotha einen Vernichtungskrieg, lassen die Ovaherero und Nama in der Wüste verdursten und in Konzentrationslagern Zwangsarbeit leisten. Im Auftrag von Waldstätten plündert Hoffmann die Dörfer der namibischen indigenen Bevölkerung, enthauptet ihre Toten, auch durch die Schändung ihrer Ahnengräber, um ihre Kunst, Kulturgüter und Köpfe[3] für die ethnologische Forschung und Museen nach Deutschland zu schicken. Kunouje begegnet er Jahre später in einem KZ wieder. 1920, am Ende des Films, unterrichtet er schließlich selbst als Professor jene evolutionistisch-rassistischen Theorien, die er einst hinterfragte.

Marginalisierung von Schwarzen Körpern, Erfahrungen und Perspektiven

Filmplakat Der Vermessene Mensch

© Studiocanal GmbH

Auf dem Plakat zum Film wird das Gesicht von Kunouje, grandios gespielt von Girley Charlene Jazama, fast komplett hinter dem Filmtitel in altdeutscher Schrift verdeckt. Diese Art der Darstellung, bei der Schwarze Menschen in den Hintergrund gedrängt werden, ist bezeichnend für den gesamten Film. Zunächst einmal gibt es darin keine einzige Schwarze Figur mit der gleichen dramaturgischen Relevanz wie die von weißen Figuren. Nur in den ersten 30 Minuten erhalten die Ovaherero und Nama eine gewisse Handlungsmacht: Angeführt von Friedrich Maharero protestieren sie bei der Kolonialausstellung in Berlin gegen die Vermessung ihrer Köpfe. Kunouje überredet sie dazu, die erniedrigende Prozedur über sich ergehen zu lassen, damit sie bei Kaiser Wilhelm eine Friedensgarantie in ihrem Land einfordern können. Im weiteren Verlauf tritt sie aber vor allem als Hoffmanns Forschungsobjekt und love interest auf: Er vermisst ihren Kopf, obwohl ihr das sichtlich unangenehm ist, und stellt ihr Fragen zu ihrer Kultur und Religion. Nach ihrer Abreise schaut er immer wieder auf ihr Foto und fragt in „Südwestafrika“ mehrmals nach ihr. Abgesehen von zwei kurzen Szenen erscheint Kunouje dann nur noch als Foto wieder. Auch sie erhält also keinen eigenen, von dem weißen männlichen Blick unabhängigen Erzählstrang im Film.

Schwarze Körper, Erfahrungen und Perspektiven werden auch durch grobe Auslassungen marginalisiert. Weder die Audienz der Ovaherero und Nama beim Kaiser, noch ihr bewaffneter antikolonialer Widerstand oder ihre Kultur, ihr Alltag und ihre Beziehungen erhalten szenisch Raum im Film. Nach dem ersten Akt werden die Nama und Ovaherero zudem regelrecht zur Kulisse für die weiß dominierte Erzählung. Hunderte von Kompars:innen ohne Namen und Dialog stellen sie als Teil einer anonymen Masse dar, die wir vor allem in Totalen und sehr kurzen Einstellungen sehen. Die Kameraperspektive verschmilzt dabei mit der Perspektive der weißen Figuren, zum Beispiel durch Aufnahmen von hinten bzw. über ihre Schulter sowie Point-of-View-Shots, wie etwa durch das Fernglas von Hoffmann oder das Zielfernrohr des Gewehres von Oberleutnant Crensky. Eine entsprechende visuelle Repräsentation des Schwarzen Blicks erfolgt nicht. Dem Publikum wird durch all diese narrativen, dramaturgischen und formal-ästhetischen Mittel die Möglichkeit entzogen, sich tiefer mit den Ovaherero und Nama zu identifizieren. Auch Empathie für die Betroffenenperspektive wird so nur in oberflächlicher und abstrakter Form hergestellt.

Und was ist eigentlich mit dem Publikum? In der Handlung kommt permanent massive, oft auch explizite rassistische Gewalt an Schwarzen vor, auf der diskursiven, materiellen, politischen, sprachlichen wie auch physischen Ebene. Diese wiederholte Reproduktion von Rassismus kann in ihrer Intensität auf Schwarze Zuschauer:innen extrem triggernd und re-traumatisierend wirken. Denselben Effekt können die stereotypen Bilder von leidenden, verwahrlosten, hungernden und bettelnden Schwarzen Menschen während der Zeit des Genozids haben.

Fokus auf den weißen Blick und Empathie für weiße Täter

Wir erleben die Handlung vor allem aus der weißen kolonialen Täterperspektive. Im Fokus stehen die Erfahrungen und Emotionen der männlichen weißen Figuren, insbesondere des Protagonisten Hoffmann. Geradezu zynisch wird ihre Privilegierung dort, wo der Film sich sogar in zentralen Momenten von den Ovaherero und Nama abwendet und die Aufmerksamkeit auf weiße Figuren richtet. So wird die Bombardierung eines Ovaherero-Dorfes durch die Kolonialtruppen nur für wenige Sekunden gezeigt, jedoch durch zwei wesentlich längere Szenen mit Hoffmann gerahmt: In der ersten wird er als potentieller Feind von Ovaherero-Kämpfern gefesselt und angeschossen. In der zweiten kommt eine Gruppe von flüchtenden Ovaherero Hoffmann aus der Totalen näher, während er versucht, sich im Vordergrund des Bildes panisch aus seinen Fesseln zu befreien. In dieser Rahmenhandlung mit Hoffmann als weißem Opfer erscheinen ausgerechnet die Ovaherero und Nama als Täter:innen, die im Off (also außerhalb der Leinwand) zu Tausenden in einem Genozid ermordet werden.

Szene aus Der Vermessene Mensch mit

© Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Dem Publikum wird suggeriert, Hoffmann sei im Herzen ein guter Mensch und werde allein durch äußere Zwänge zum Täter. Er wird zugleich als Idealist, Romantiker, Opportunist und Opfer der Umstände charakterisiert, der sich im ständigen Kampf zwischen seinen Überzeugungen, seiner Zuneigung für Kunouje und seiner Karriere als Ethnologe befindet. Zahlreiche Nahaufnahmen betonen Hoffmanns Sensibilität und Menschlichkeit, wie beispielsweise seine Ohnmacht und Trauer darüber, wenn die Ovaherero und Nama vor seinen Augen umgebracht werden, oder seinen Ekel und seine Scham für seine eigenen Untaten. Durch den Fokus auf seinen Glauben an den vermeintlich positiven wissenschaftlichen Beitrag der Ethnologie, seinen Einsatz und sein Mitgefühl für die Schwarzen sowie seine Suche nach Kunouje wird zudem das kolonial-rassistische Motiv des „weißen Retters“ (white saviour) bedient.

Sogar Crensky, der als Oberleutnant maßgeblich für den Genozid mitverantwortlich ist, wird im Film mehrmals in ein positives Licht gerückt: Nachdem er eine Ovaherero-Mutter tötet, erleben wir ihn gerührt und mit Tränen in den Augen. Obwohl er der Mörder ist, schafft der Film durch diese Nahaufnahme mehr Empathie für ihn als für die sterbende Frau, die nur für einen kurzen Moment in der Ferne zu sehen ist. Crensky äußert auch mehrmals Kritik an Hoffmann und hilft ihm nur widerwillig bei der Schändung eines Ahnengrabs mit. Schließlich wird er selber von einem Ovaherero-Kämpfer erschossen und Hoffmann wiederum zu dessen Mörder.

Antirassismus und Black Lives Matter — auch im Kino!

Ein antirassistischer Film hätte Kolonialverbrecher niemals so menschlich inszeniert, sondern konsequent als Täter. Er hätte die Betroffenenperspektive, den antikolonialen Widerstand und die Kultur der Ovaherero und Nama nicht marginalisiert und unsichtbar gemacht, sondern in den Fokus gerückt. Und er hätte mindestens eine starke Schwarze Hauptfigur als antirassistische Gegenstimme inkludiert, um dem Widerstand gegen die kolonialrassistische Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung gebührend Raum in der Handlung zu geben.

Die Dominanz und Privilegierung des weißen Blicks im Films spiegelt sich auch in der Filmcrew wider, die in allen entscheidenen Positionen, von Regie, Drehbuch, Produktion und Kamera über Ton & Sound Design bis zum Schnitt, mit weißen deutschen Cis-Männern besetzt wurde. Dabei hätte eine respektvolle, ausgewogene Erzählung durch eine Zusammenarbeit mit kritischen Schwarzen Filmschaffenden als Head Of’s und (Co-)Autor:innen angestrebt werden können. Black Lives Matter bedeutet auch, dass privilegierte Weiße in der Filmindustrie solidarisch Platz machen für Schwarze, auf der Leinwand wie auch in der Produktion.

An dieser Stelle möchte ich mich bei den Schwarzen Filmschaffenden, die mit mir über den Film gesprochen haben, von Herzen für den wertvollen Austausch bedanken. Dennoch hat mein Artikel keinen Anspruch auf Vollständigkeit, und als Autorin of Color und Ally beabsichtige ich damit nicht, für Schwarze Menschen zu sprechen.

Dieser Artikel erschien bei Vision Kino am 24.04.2023.

[1] Miriam Makeba (1932 – 2008) war eine weltbekannte Musikerin, Schauspielerin und Menschenrechtsaktivistin aus Südafrika. Das Zitat stammt aus einem Fernsehinterview von 1969.

[2]  Artikel der bpb zum Abkommen zwischen Namibia und Deutschland

[3] Dem weisen Vorbild von Mnyaka Sururu Mboro (Aktivist und Mitbegründer des Vereins Berlin Postkolonial) folgend, benutze ich in meinem Text den Begriff „Kopf“ statt „Schädel“, aus Respekt vor den im Genozid ermordeten Menschen und ihrer Vorfahren. Siehe u.a. dieses Interview mit nd vom 16.10.2020

Über die Gastlöwin:

Canan Turan

Canan Turan

Canan Turan ist Filmemacherin, Kuratorin, Autorin, Moderatorin, Speakerin und Beraterin. Sie studierte Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Universitat Pompeu Fabra Barcelona, und sie machte einen Master in Dokumentarfilm am Goldsmiths College London. Ihre Schwerpunkte sind Diversität, Repräsentation, postkoloniale, intersektionale feministische Perspektiven und diskriminierungskritische Dramaturgie im Film. Canan ist die Regisseurin des Kurzfilms Kymet (2012) und Creative Producerin des langen Dokumentarfilms From Here (2020) von Christina Antonakos-Wallace. Kuratorisch tätig war sie u.a. für das Duhok IFF, AKE DIKHEA? International Festival of Romani Film, das Deutsche Filminstitut und Museum, Panthertainment und die Vision Kino. Derzeit arbeitet sie als Festivalprogrammiererin bei interfilm Berlin.