Lesestoff: Helke Sander: Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers

Ein einziger Film in etwa hundert Seiten. Beschreibungen, Analysen, Kontexte, Parallelen: Mit ihren Film|Lektüren lädt die edition text + kritik dazu ein, innezuhalten und sich eingehender mit einzelnen Filmen zu beschäftigen. Ein Fokussieren, das in einer Zeit mit mindestens zehn Kinostarts pro Woche oft schwer fällt oder danach verlangt, den Sprudel an Neuerscheinungen auch mal geduldig vorbeirauschen zu lassen, um in der Lektüre und im Rewatchen eines einzigen Films zu versinken. Eine Vielzahl an Filmen kommt und geht, manche schreiben sich in die Filmgeschichte ein oder lassen uns persönlich nicht los, andere vergessen wir schnell, besonders wenn wir danach wenig über sie nachgedacht oder diskutiert haben. Sich eingehender mit einzelnen Filmen zu beschäftigen, kann das eigene Auge schulen, die Zeit anhalten. Seit 2019 existiert die Film|Lektüren – Reihe, nun erscheinen erstmals zwei Publikationen zu feministischen Leuchtfeuern. Bereits erhältlich ist jene zu Helke Sanders bahnbrechendem Film Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers von Kevin Vennemann, im November folgt Eva Kuhns Auseinandersetzung mit Chantal Akermans Jeanne Dielman.

Helke Sander erzählt in ihrem Film die Geschichte einer Fotografin, alleinerziehenden Mutter und Feministin, die sich durch ihr Alltagsleben kämpft und die sie selbst verkörpert. Die finanzielle Lage, Einnahmen und Ausgaben, müssen minutiös berechnet werden, die Tochter bei Laune gehalten, der Liebhaber im Auge behalten und kurzsichtigen Ideen von Feminismus genauso wie patriarchalen Verhältnissen selbst entgegengehalten werden. Der Einblick in das Westberliner Leben der fiktionalen Edda Chiemnyjewski mit seinen dokumentarischen Bilder der Stadt Berlin sowie von Ereignissen wie etwa der Ausstellung Künstlerinnen international 1877-1977 (die für die Sichtbarkeit bundesdeutscher Künstler*innen wesentlich war) ist auf vier Tage begrenzt. Diese filmische Struktur nützt Vennemann gleich für die Gliederung seiner – und somit auch unserer – Lektüre. Nach einer Einleitung, die den Leser*innen Sanders vielfältige Arbeit, westdeutsches feministisches Filmschaffen der 1970er sowie die Symbolik von Orangen in der Filmgeschichte allgemein und in Redupers speziell näherbringt, sind die Kapitel also chronologisch nach Tagen bzw. Tagesabschnitten – Samstagmorgen, Samstagnachmittag usw. – geteilt und darin erneut segmentiert. Dabei widmet sich Vennmann der Analyse einzelner Szenen oder inhaltlichen bzw. formalen Schwerpunkten, wie den sichtbaren Spielorten oder Sanders Inszenierungsstrategien. 

Detailliert recherchiert und eindrucksvoll dargelegt sind im Film sichtbare Details: so erfahren wir in der Beschreibung der Szenen der Ausstellung (Montagabend) Künstlerinnen international 1877-1977 über die Hintergründe dieses tatsächlich stattgefundenen Events sowie über einzelne Werke und Künstlerinnen, wie etwa Hanna Nagel. Edda und ihre Kolleginnen besuchen das Event, führen Gespräche, knüpfen Kontakte, erklären ihre Haltungen und bekommen von Männern vermeintlich die Funktionsweisen der Kunstwelt erklärt. Szenen, die als kritisches Kommentar auf die Kunst- und Kulturwelt zu verstehen sind. Auch die nur kurz sichtbare Collage (Montagmorgen), die Sander aus dem Hintergrund einer Tageszeitung mit drei darüber gelegten Vierecken, in denen sich für kurze Zeit drei Filme abspielen, friert Vennemann für seine Leser*innen sozusagen ein. Wir erfahren, dass es sich um Ausschnitte aus Der Scharfrichter von Ursula Reuter Christiansen, Yvonne Rainers Film About a Woman Who… und Valie Exports Unsichtbare Gegner handelt und welche Bezüge und Parallelen sich zu Redupers herstellen lassen.

Auch erfahren wir zu Beginn der Lektüre viel über die Drehorte, die Vennemann zum Anlass nimmt, um seinen Leser*innen etwa die Verfehlungen der damaligen Westberliner Wohnbaupolitik zu unterbreiten. Im Film bewegt sich die Kamera passagenweise entlang der Mauer und von Fassaden. Damit wird sie zur Zeugin ihrer Zeit, hält flüchtige und doch bleibende Momente fest. Vennemann arbeitet sich immer wieder an den Oberflächen der Stadt und ihren tagespolitischen Implikationen aber auch an deren symbolischer Aussagekraft in Bezug auf Eddas Geschichte ab. Die Funktion und Symbolik der Berliner Mauer nimmt im Film nicht nur als Marker der gesellschaftspolitischen Situation eine Rolle ein. Edda und ihre Fotogruppe arbeiten an einem vom Senat geförderten Projekt, mit dem sie ins Stadtbild intervenieren und die Teilungssituation kritisch beäugen wollen. Doch die Auftraggeber erwarten von den Frauen natürlich, dass sie etwas über Frauen machen und nicht „nur“ über die Stadt. Edda und ihre Kolleginnen müssen sich ständig behaupten und abwägen, wie sie ihre politischen Botschaften durchsetzen können. Dabei diskutieren sie in der Gruppe und sind nicht immer einer Meinung. Vennemann schafft im Kapitel Die Aussprache eine gelungene Mischung aus Analyse jener Szene, in der die Frauen ihr Projekt besprechen mit einer Kontextualisierung zur feministischen Bewegung sowie Bezüge zu anderen zeitgenössischen Filmen, wie etwa Helma Sanders-Brahms Unter dem Pflaster ist der Strand (1975), Sanders Kurzfilm Kinder sind keine Rinder (1969) oder zu Cristina Perinciolis Für Frauen, 1. Kapitel (1971) (alle drei übrigens kostenlos auf filmfriend.de zu streamen). 

Andere filmische Bezüge, die weiter in die Gegenwart hineinreichen oder eine Brücke zur Vergangenheit schlagen, mögen zwar spannende Impulse bieten, bleiben aber mitunter auf der Oberfläche haften. So beschreibt der Autor, wie wichtig der Austausch der Frauen in Sarah Polleys 2022 erschienen Women Talking für ihre Befreiung sei. Doch scheint der Vergleich hier etwas unglücklich gewählt, fehlt doch eben diesem Film genau der Realitäts- und Strukturbezug, durch den es Redupers gelingt, den Emanzipationskampf so nachvollziehbar und komplex darzustellen. Bei Women Talking handelt es sich um eine mennonitische Gemeinde, die von der Außenwelt gänzlich abgeschlossen ist und in der die Frauen von den Männern systematisch missbraucht werden. Das Agieren und Argumentieren der Frauen in Women Talking passiert auf eine so differenzierte Weise, wie sie in einer Nacht kaum entstehen kann – politische Bewusstseinsbildung findet hier aus den Figuren heraus statt, was bei weitem realitätsfern ist und so letztlich abstrakt bleibt. Emanzipation durch eine solidarische Gruppe braucht Zeit, Arbeit und Durchhaltevermögen, genau wie es in Redupers ersichtlich wird. Women Talking mag in seiner Symbolik zwar funktionieren aber ihn in Zusammenhang mit Redupers zu stellen, wirkt etwas verfehlt. 

Ein anderer Vergleich eröffnet die Analyse der Begegnung Eddas mit einem Redakteur. Vennemann greift Josef Sternbergs 1932 erschienen Blonde Venus mit Marlene Dietrich auf, da Laura Mulvey ihn als Beispiel für ihren 1975 beschriebenen male gaze heranzieht. Unerwähnt bleibt dabei der Dreifachaspekt der von Mulvey analysierten Blickstrukturen klassischer Hollywoodfilme. Es geht um die Frage, wie die Person hinter der Kamera blickt, die Figuren untereinander sowie die Zuschauenden auf die Figuren. In welches Verhältnis setzt sich Sander dazu, indem sie sowohl als Akteurin vor als auch hinter der Kamera agiert? Und wäre nicht gerade hier ein Vergleich zu einem heutigen (deutschen) Spielfilm noch eindrücklicher gewesen, um zu zeigen, wie hartnäckig sich der male gaze bis heute hält und wie wiederkehrend auch die Hürden sind, denen Edda begegnet? So ist die Sehnsucht, gerade bei einem politischen Film einer so bahnbrechenden Aktivistin, nach Bezugspunkten zur Gegenwart groß. Auch unerwähnt bleibt eine Szene in Redupers, an die ich mich selbst immer wieder erinnerte: als sich die Gruppe der Frauen für ihr Projekt trifft, bringt eine ihr Kind mit, worüber sich eine andere aufregt: „Jedes Mal schleppt eine von euch ihr Kind an“. Diese Kritik klingt zunächst unsolidarisch, wirft aber sofort und nebenbei die Problematik der fehlenden Kinderbetreuung auf. Hier wäre ein Verweis auf Sanders Engagement im Rahmen der Kinderladenbewegung bereichernd gewesen und hätte eine Grundproblematik, die der Sorgearbeit und Kinderbetreuung (die für Alleinerziehende noch immer eine besondere Herausforderung bedeutet und gerade angesichts von konservativen Backlashes in Europa von der Politik gern ignoriert wird), des Films aufgegriffen. Es sind Aspekte des Alltagslebens, die sich hinter den Fassaden befinden und auf die die Lektüre zugunsten der im Film vor der Kameralinse sichtbaren Details (etwa der Ausstellung, Straßennamen und Bauprojekten) verzichtet.

Die Publikation kann all jenen ans Herz gelegt werden, die mehr über das Westberlin der 1970er erfahren möchten und die Impulse für die Beschäftigung mit feministischen Regisseurinnen suchen. Je nach Lesegewohnheiten gibt es mitunter auch anspruchsvoll formulierte Passagen, für die es sich Zeit zu nehmen gilt, sie vielleicht nochmal zu lesen und darüber nachzudenken. Allenfalls eine lohnende Lektüre, die Lust macht auf mehr detaillierte Auseinandersetzungen.

 

Bianca Jasmina Rauch
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