Girl On The Train – Appell für einen Perspektivwechsel

Warst Du schon einmal in der Situation, dass Dein Gegenüber Deine Gedanken besser zu kennen glaubte als Du selbst? Wurde Dir schon einmal Dein eigenes Verhalten auf eine Art und Weise gespiegelt, die Du nicht mit Dir selbst in Verbindung bringen konntest, eine Situation, die Du als Bedrohung empfunden hast, als Aggression Deinerseits umgedeutet? Ist Dir schon mal die Schuld für Erfahrungen von psychischer oder physischer Gewalt zugesprochen worden – bevorzugt von eben jener Person, die Du als Angreifer_in erlebt hast?

© Constantin

© Constantin

Die Wahrscheinlichkeit, dass Du eine oder gar alle diese Fragen mit „ja“ beantwortest, steigt, wenn Du in dieser Gesellschaft als Frau* lebst. Von klein auf lernen wir, dass unsere Emotionen, insbesondere die negativen, von anderen Menschen, meist Männern*, besser beurteilt werden können als von uns selbst. Ob unsere Gefühle „angemessen“ sind oder nicht, beurteilen sie und nicht wir. Dasselbe gilt für die Handlungen, die diesen Emotionen Ausdruck verleihen, beziehungsweise jenen, mit denen wir unsere Emotionen kompensieren. Diese anerzogene Unsicherheit in Hinblick auf die eigene Gefühlswelt, auf unsere Sicht der Dinge, legt den Grundstein für das was „Täter-Opfer-Verdrehung“ genannt wird, für Situationen, in denen Menschen, die physische oder psychische Gewalt erleben, die Schuld für eben jene Taten zugesprochen wird. Ohne die vorhergehende Verunsicherung würde dieses System nicht funktionieren. Betroffene würden sich mit einem beherzten „Bullshit!“ abwenden und das Weite suchen.

In gewisser Weise ist Girl On the Train, die Verfilmung des Bestsellers von Paula Hawkins eine Parabel für ebene jene gesellschaftlichen Strukturen, auch und insbesondere für die steten Zweifel an den Aussagen von Frauen* bezüglich ihrer Gewalterfahrungen – nicht nur durch Männer, sondern auch durch andere Frauen*. Neben vielen anderen Themen nimmt Girl On the Train die (fehlende) Solidarität unter Frauen* und die darin wurzelnde Isolation in den Blick, die ihren Teil dazu beiträgt, abusive Strukturen im privaten wie auch im öffentlichen Leben aufrechtzuerhalten.

© Constantin

© Constantin

Durch die Augen der Frauen*

Girl On the Train hebt sich von der großen Masse an Psychothrillern insbesondere dadurch ab, dass sich Roman wie auch Verfilmung ausschließlich auf die Perspektive der weiblichen* Hauptfiguren beschränken. Rachel (überragend verkörpert von Emily Blunt) verliert nach der Scheidung von Ex-Mann Tom endgültig die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum. Im Zug zwischen Wohnung und Arbeitsplatz aus dem Fenster schauend, entwickelt sie eine Faszination mit Megan (Haley Bennett) und deren scheinbar perfekten Ehe mit Scott (Luka Evans), die sich in einem der Vorgärten eben jenes Viertels abspielt, in dem Rachel einst ihren eigenen Traum von der großen Liebe gelebt hat. Ihr ehemaliges Heim ist nun das Zuhause von Toms neuer Kleinfamilie aus der liebreizenden Anna (Rebecca Ferguson) und der gemeinsamen Tochter.

Wie sich herausstellt, hegt jede der Heldinnen einen Groll gegen eine der anderen. Anna empfindet die labile Rachel als Gefahr für ihre Familie, Megan verachtet das Hausmütterchen Anna und Rachels Faszination für Megan verwandelt sich in Hass, als sie diese beim Techtelmechtel mit einem anderen Mann als Scott beobachtet.

Als Megan verschwindet und Rachel mit einem Filmriss und blutverschmierter Kleidung erwacht, ahnt sie das Schlimmste. Fortan versucht sie alles, um die Ereignisse der im Alkoholdunst versunkenen Nacht zu rekonstruieren. Rachels Präsenz in ihrem ehemaligen Wohnviertel jedoch macht nicht nur Anna misstrauisch, sondern auch die ermittelnde Kommissarin Riley (Allison Janney).

© Constantin

© Constantin

Weniger stark als der Roman, aber dennoch eindrücklich, erzählt Girl On the Train von drei Frauen*figuren, die sich jede auf ihre eigene Weise in einer emotionalen Not befinden, die ihre Gesellschaft nicht anerkennt. Mutterschaft, die vergebliche Sehnsucht danach oder auch die Angst davor, ist dabei das verbindende Element der drei Figuren. Den starken Kürzungen der Vorlage ist leider vor allem Annas Geschichte und Charakterentwicklung zum Opfer gefallen, die im Kontext des Films allein nicht vollständig nachvollzogen werden kann. Doch im Ansatz ist die in ihrer Mutterrolle wurzelnde Isolation erkennbar, ihr innerer Konflikt zwischen bedingungsloser Liebe zum Kind und der Sehnsucht nach einem eigenen, unabhängigen Leben außerhalb der vier Wände ihres perfekten Hauses im perfekten Wohnviertel. Etwas zugänglicher ist die Not Megans, die sich durch die Eifersucht ihres Ehemannes sowie seinen mit Nachdruck formulierten Kinderwunsch derart in die Enge getrieben fühlt, dass sie in einer tiefen Depression versinkt. Sorgsam hütet sie das Geheimnis um ein tiefes Trauma, für das sie weder von Scott noch von ihrem sozialen Umfeld Verständnis erwarten kann. Am nächsten aber stehen die Zuschauer_innen Rachel und ihrem tiefen Schmerz über den Verlust ihrer Liebe, den Traum vom eigenen Kind und den damit verbundenen Schuldgefühlen, die in einen destruktiven Selbsthass übergegangen sind.

Du hast das selbst über Dich gebracht!

Rachel, Megan und auch Anna – so denken sicher viele Menschen innerhalb der Geschichte und im Kinopublikum – sind doch selbst Schuld an ihrer Lage. Diese Bewertung ist den Frauen* bewusst. Sie alle hadern mit den eigenen Gefühlen, Ängsten und Sehnsüchten und drohen damit einander gegenseitig zu zerstören.

Dass die Männer* der Geschichte weniger umfassend beleuchtet werden, ist keine sexistische Diskriminierung. Es geht diesem Film nicht um Individualschuld einzelner, sondern um gesellschaftliche Missstände. Scott und Tom sind zum einen nur Platzhalter für Strukturen der Unterdrückung, zum anderen bietet die Geschichte auch andere, durchaus positiv gezeichnete Männer*figuren an. Vor allem aber wählt Girl On the Train ganz bewusst die Perspektive der Frauen*, um einen in dieser Konsequenz seltenen Perspektivwechsel vorzunehmen.

Es ist schade, dass in der Adaption des Romans die Entwicklungen der einzelnen Frauen*figuren zu kurz kommen. Insbesondere Rachels Prozess, das Infragestellen der Fremdzuschreibungen und langsam wachsende Vertrauen in die eigene Wahrnehmung und Gefühlswelt, ist eine Ermächtigung mit Vorbild- und Appellfunktion, die das zu Grunde liegende Buch weitaus eindrücklicher zu erzählen weiß. Doch auch die Verfilmung von Girl On the Train ist im Grunde explizit genug, um den Zuschauer_innen die „Moral von der Geschichte“ zu vermitteln.

© Constantin

© Constantin

Die Relativierung „im Grunde“ habe ich der Sichtung des Films mit Publikum zu verdanken. Hätte ich Girl On the Train alleine gesehen, auf DVD vor dem heimischen Fernseher zum Beispiel, wäre mir die erschreckende Bandbreite der Reaktionen verborgen geblieben. Nichts an diesem Film ist im eigentlichen Sinne lustig. Girl On the Train ist konsequent als Psycho-Thriller inszeniert, mit ergreifenden dramatischen Elementen. Nichts daran aber ist komisch – auch nicht unfreiwillig. Dennoch gab es in der Pressevorstellung des Films wiederholte Lacher von – an den Stimmen eindeutig zu identifizierenden – mehrheitlich männlichen* Zuschauern. „Darüber können auch nur Männer lachen“, flüsterte mir eine entgeisterte Kollegin zu. Auf der Leinwand stieg gerade eine der Heldinnen mit dem Mann ins Auto, der durch die Geschichte als Aggressor entlarvt worden war. An diesem Zeitpunkt ist dem Kinopublikum klar, dass eine Szene von starker körperlicher Gewalt folgen wird. Trotzdem lustig?

Die frappierend geschlechtsspezifische Reaktion zeigt eindrücklich, dass die Erfahrung von psychischer und physischer Gewalt in Verbindung mit einer Täter-Opfer-Verdrehung vornehmlich ein Teil der weiblichen Realität ist, und damit auch, wie ultimativ wichtig dieser Film ist. Girl On the Train hat hinsichtlich der Figurenentwicklung dramaturgische Schwächen, was partiell auf die männliche* Regie zurückzuführen sein mag. Darunter leidet der Zugang zu den Figuren, die damit Gefahr laufen Klischees weiblicher Hysterie und Irrationalität zu untermauern anstatt zu dekonstruieren. Hierdurch mag Irritation entstehen, aber Lachen in Anbetracht physischer und pychischer Gewalt ist keine logische Konsequenz von Irritation. Die Fähigkeit, trotz des so anschaulichen seelischen und auch körperlichen Leids der Figuren zu lachen, ist vor allem mit einer Lebensrealität zu erklären, die die im Film dargestellte Gewalt nicht kennt. Zugleich erfordert sie eine Mauer der Ignoranz gegen die empathische Einfühlung in Figuren, deren Perspektive die Erzählung konsequent einnimmt. Es ist schockierend, wie absurd dieses fiktionalisierte Gesellschaftsportrait auf viele Menschen, insbesondere Männer*, zu wirken scheint, und es erfüllt mich mit großer Wut, wenn die dargestellten Probleme im wahrsten Sinne des Wortes verlacht werden.

Dass im Jahr 2016 über Gewalt an Frauen* immer noch gelacht werden kann, liegt an der fehlenden Sichtbarkeit weiblicher* Perspektiven, am Fehlen eben solcher Filme, die sich ausschließlich ihren Heldinnen verschreiben. Und es liegt nicht zuletzt auch an einer Filmkritik, die sich um derlei Aspekte nicht schert, die von weißen, heterosexuellen Männern* mittleren und fortgeschrittenen Alters betrieben wird, die eine Geschichte über Missbrauch und Täter-Opfer-Verdrehung für einen Herrenwitz halten.

Liebe Kollegen, die ihr im Berliner Screening zu Girl On the Train gelacht habt: Dass dieser Film witzig war, liegt nicht an den Frauen* auf der Leinwand und auch nicht an der Frau*, die diese Geschichte ersonnen hat. Es liegt an euch! Schämt euch!

Kinostart: 27. Oktober 2016

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)