Gast-Löwin: Wie ich Armin in Leroy entdeckte

Dieser Tage habe ich das Gefühl meine popkulturelle Sozialisation als Kind und Jugendliche war, aus verschiedenen Gründen, vor allem eins: weiß. Und (cis-)männlich. Die Bücher, die ich gelesen und geliebt habe? Die unendliche Geschichte und Momo von Michael Ende, Der Herr der Ringe von J. R. R. Tolkien, all‘ die wunderbaren Zamonien-Romane von Walter Moers und natürlich die The Legend of Zelda-Games von Shigeru Myamoto.

Doch in letzter Zeit denke ich mir immer wieder: „Vielleicht hab‘ ich mich auch getäuscht…?“ Letztens ist mir bei Twitter beispielsweise James A. Sullivan begegnet. James A. Sullivan ist Co-Autor des Fantasyromans Die Elfen. In unserer kurzen Twitterkommunikation erzählte er davon, dass in der Figur des Nuramon in Die Elfen, wenn auch verschlüsselt, eine Menge seiner eigenen Fremdheitserfahrungen als Schwarze Person stecken. Als ich Die Elfen als Jugendliche gelesen habe, wusste ich weder darum noch um James‘ Co-Autorschaft. Der einzige Autor:innenname der mir im Zusammenhang mit Die Elfen in den Sinn kam war Bernhard Hennen, ein weißer deutscher Autor wie so viele andere, die ich als Kind und Jugendliche gelesen hatte. Seit besagter Twitterkommunikation weiß ich, dass meine Unkenntnis über James’ Co-Autorenschaft auch damit zusammenhängt, dass er zum Zeitpunkt der Veröffentlichung als Autor noch unsicher war, wie sichtbar er sein wollte. Warum? Das ist eine andere Geschichte und soll‘ ein anderes Mal erzählt werden – oder kann in der 13. Folge des Podcasts zur Phantastischen-Bestenliste mit James A. Sullivan als Gast nachgehört werden.

https://twitter.com/sa_fa_he/status/1267532388869029892

Aber wenn ich von popkultureller Sozialisation spreche, fehlen ja beispielsweise noch… genau: Filme.

Tja. Als ich 18 war, kam Leroy von Armin Völckers in die Kinos. Ich erinnere mich noch genau: Ich war in Stuttgart im Kino. Von dem schwäbischen Dorf, das Kulisse meiner Kindheit und Jugend war, aus einer aus so vielen Gründen so weißen Welt direkt in den Kinosaal. Leroy war der erste deutsche Film, den ich bis dato gesehen hatte, der eine:n afrodeutschen Protagonist:in hatte. Auch wenn sich die Familiengeschichte des titelgebenden Helden von meiner in sehr vielerlei Hinsicht unterscheidet, habe ich zugleich so viel von seinem Struggle gefühlt. Wirklich gefühlt. Leroy ist 17, seine Mutter weiß, sein Vater Schwarz, lebt in Berlin, spielt Cello, geht auf’s Gymnasium und ist verliebt in die weiße deutsche Eva, die 5 Nazi-Brüder hat. Im Laufes des Films entdeckt Leroy die Blaxploitation-Filme der Siebziger, begegnet Afrob als Blacula (der Protagonist des gleichnamigen Blaxploitation-Horrorfilms aus dem Jahr 1972) und triumphiert am Ende, natürlich, auch mit der Macht der Musik über alle Widerstände.

Auch wenn mir schon damals bewusst war wie sehr Leroy mit Klischees spielt: Dieser Film hat mich berührt. Sehr. Ich weiß noch, es gab damals ein Gewinnspiel um die Teilnahme bei der Filmpremiere in Berlin. Berlin war als Jugendliche auf dem schwäbischen Dorf für mich so weit weg, dass… ach wurscht, liebe Vergleiche: Einfach sehr weit weg. Unwirklich weit weg. Wie ein anderes Universum. Großartige Gewinnchancen hatte ich mir also eh nicht ausgemalt und gewonnen habe ich, Überraschung, auch nicht. Self fullfilling prophecy? Wer weiß. Ich war trotzdem sehr traurig, als ich erfahren habe, dass ich kein Ticket zur Premiere von Leroy gewonnen hatte.

Heute, über 10 Jahre später, habe ich, warumauchimmer, das erste Mal den Leroy-Regisseur Armin Völckers ernsthaft gegoogelt und erfahren: Armin Völckers ist nicht die ältere Version von Leroy, die ich immer imaginiert hatte, keine junge Schwarze Person, nein. Armin Völckers ist weiß.

Leroy © David Baltzer/Zenit

Ich meine… was?! Der Autor des Films, in dem so viel von meiner afrodeutschen Lebensrealität als Jugendliche aufging, dass ich nach dem Kino fast geweint hätte, dass ich wochenlang nicht aufgehört habe davon zu sprechen, dass ich mit einer furchtbar blauen Mütze vom Chiemsee Reggae Summer für das Filmpremierengewinnspiel im Garten meiner Eltern posiert hatte.. ist weiß?! 

Ich weiß noch, ich hatte kurz nachdem ich Leroy gesehen hatte irgendwo im Netz den Kurzfilm, aus dem dann später der Kinofilm entstand, aufgetrieben: Leroy räumt auf. Darin gibt es eine Szene, in der Leroy nachts an einer roten Ampel an einer leeren Straße steht und laut darüber nachdenkt, was das mit seinem Deutsch-Sein zu tun hat. Mein ganzes Studium über, in einer kleinen Stadt irgendwo in NRW, bin ich nachts an leeren Straßen an roten Ampeln stehen geblieben und habe darüber gelacht, wie deutsch das ist, und mich zugleich gefragt, was das eigentlich sein soll: deutsch. Über die Diskrepanz zwischen meinem Selbstbild und dem Bild, das schon mein ganzes Leben lang, ungefragt, alle anderen an mich herantragen. Afrodeutsch. Heute schmeckt dieses Wort anders.

Unsere Gast-Löwin Sarah Fatuun Heinze im Alter von 16 Jahren / Foto: privat

Als ich 16 war, war „afrodeutsch“ die Antwort auf die Schubladen, in die Menschen mich unaufgefordert hinein steckten, ohne sich auch nur zu erkundigen, ob ich vorher nochmal kurz Luft schnappen wollte. Ich hatte kein Konzept von „deutsch“, und erst recht keines von „afrikanisch“. Was an mir war denn nun was von beidem? Ich kannte weder meine Ursprungsfamilie (ich bin adoptiert) noch mein Geburtsland (Somalia). Ich kannte nur das Ländle. Meine weißen Eltern (mit denen mich eine sehr liebevolle Beziehung verbindet). Die Weinberge, wann die S-Bahn nach Stuttgart fährt und… die Lieder der Nazis in dem Dorf, in dem ich den Großteil meiner Jugend verbrachte, und die ich hier einerseits nicht wiedergeben möchte und es andererseits vermutlich auch gar nicht könnte. Denn ich stelle immer wieder fest, wie gut ich war und bin im Vergessen, im Verdrängen. Würde ich mich immer an all‘ die rassistische Gewalt erinnern, die ich in meinen 30 Jahren erleben musste, würde ich vermutlich gar nichts mehr machen. Habe ich zumindest lange so formuliert. Mittlerweile bin ich mir da gar nicht mehr so sicher. Im Gegenteil befasse ich mich dieser Tage viel mit dem Nachfühlen, dem Erinnern, dem Zulassen. Meine Welt wird tiefer, größer, komplexer, bekommt mehr Farben. Wie in einem Game, wenn eins das erste Mal auf die Karte der Oberwelt kommt und im gleichen Atemzug checkt, wie groß die Welt eigentlich ist. Wie viel es zu entdecken gibt. In all’ der Überforderung, dem Anlass zum Wachsen, mit all’ dem Schmerz aber auch mit all’ der Freude darüber sich immer mehr Skills anzueignen. Mit all’ dem Scheitern. Um sich immer wieder und wieder und wieder im Angesichts des “Game Over! Continue?”-Screens für “Continue!” zu entscheiden.

Leroy © David Baltzer/Zenit

Tja. Und nun schau‘ ich nochmal in mein Inventar und entdecke… Leroy. Der mich scheinbar doch ziemlich lang begleitet hat, als wär‘ er Link’s Navi, die mir wie dem Protagonisten aus The Legend of Zelda ungefragt einen Tip nach dem anderen gibt. Jetzt sehe ich nur noch Armin Völckers. Ich muss schlucken. Ich bin erschüttert und aweng traurig. Aber es ist auch okay. Die Oberweltkarte ist groß und sind wir mal ehrlich: Navi nervt meistens eh.

Und: Leroy ischt ja au net Armin: Gell?


Über die Gäst-Löwin: 

© Dr. Bernd Seydl

Sarah Fartuun Heinze ist Theatermacherin, Gamerin, Musikerin und Aktivistin. Sie wurde 1989 in Marka (Somalia) geboren, ist Schwäbin, lebt in Cottbus und arbeitet als freiberufliche Künstlerin an der Schnittstelle zu Theater, Games, Musik und Empowerment. Eines ihrer Lieblingsspiele ist »Zelda: Ocarina of Time«, vermutlich weil da, wie so oft, der Schlüssel zu den meisten Rätseln die Musik ist.

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