Fancy Dance
In ihrem Spielfilm-Regiedebüt Fancy Dance nähert sich Regisseurin Erica Tremblay einer Familienkonstellation, die gleichermaßen durch Entfremdung, Instabilität und Hoffnung geprägt ist. Die Geschichte des Films, der sich zwischen Familiendrama und Crime-Road-Movie bewegt, erzählt Tremblay mit einem Fokus auf matrilinearen Zusammenhalt innerhalb indigener Communities und reflektiert über Überlebensstrategien in einer kolonialisierten Welt. Für die Hauptfiguren Jax (Lily Gladstone) und Roki (Isabel Deroy-Olson) spiegelt sich diese Realität in einer Reflexion von Autonomie und Agency wider, die ihnen gleichermaßen ab- wie zugesprochen werden in ihren Rollen als indigene FLINTA, die mehrfach marginalisiert sind, aber auch für Formen des Überlebens und Widerstands stehen. ___STEADY_PAYWALL___
Jax und ihre 13jährige Nichte Roki leben im Seneca-Cayuga Reservat im US-Bundesstaat Oklahoma. Das dritte Mitglied dieser Familien-WG, Rokis Mutter und Jax‘ Schwester Tawi, ist seit mehreren Wochen verschwunden. Während Jax mit Plakaten nach der Vermissten sucht und durch Aufrufe und Anrufe, die ins Leere laufen, staatliche wie unabhängige (Reservats-)Polizeieinheiten zur Suche nach der Vermissten auffordert, glaubt Roki fest daran, dass ihre Mutter spätestens zum Grand Nation Powwow in Oklahoma City wieder auftauchen wird. Schließlich wollen sie als amtierende Champions der Mutter-Tochter-Kategorie dort ihren Titel verteidigen. Als die vorbestrafte Jax aufgrund ihrer kleinkriminellen Vergangenheit nicht als Vormund für Roki in Frage kommt, wird die Teenagerin zu ihrem weißen Großvater mütterlicherseits, zu dem die Familie nur wenig Kontakt hat, geschickt. Als der Powwow immer näher rückt, beschließt Jax, entgegen behördlicher Vorgaben, mit Roki nach Oklahoma City zu fahren und begibt sich gleichzeitig auf die Suche nach ihrer Schwester.
Als Vorbild kann Jax eigentlich nicht für ihre Nichte dienen. Zu sehr ist ihr Alltag von Kleinkriminalität, Alkohol- und Drogenmissbrauch geprägt: Da das Geld knapp ist, verlässt sich Jax auf Lebensmitteldiebstahl und bringt Diebesgut aus gestohlenen Autos zur Pfandleihe; der nächste Tag beginnt regelmäßig verkatert auf der Couch. Aber selbst Tawis Verschwinden kann die eingespielte Gemeinschaft von Tante und Nichte nicht zerrütten: Auch Roki unterstützt bei illegalen Unternehmungen, sodass die Familie überleben kann; während ihre Tante noch im Tiefschlaf liegt, ist Roki bereits routinemäßig eigenständig in den Tag gestartet.
Dennoch ist es gerade eben die auf den ersten Blick unzuverlässige Jax, die ihrer Nichte über ein Leben berichten kann, dass der weißen Mehrheitsgesellschaft fremd ist. Als Rokis weiße Stiefgroßmutter sie besser kennenlernen möchte, versucht sie eine Annäherung über die gemeinsame Liebe zum Tanz. Nancy (Audrey Wasilewski) schlägt Roki Ballettstunden vor, will ihr sogar die Ausstattung bezahlen. Roki stellt aber schnell klar, dass der Powwow viel mehr als eine Reihe von Tänzen für sie ist: Die Veranstaltung beschreibt sie nicht nur als ein physisches, sondern auch ein metaphysisches Erlebnis. Von Aufmachung bis Brauchtum beschreiben die Tanzformen der Powwows (darunter auch der titelgebende prunkvolle Fancy Dance) Leben und Überleben. Sie erzählen von Geschichte, Trauma, Familie, Zugehörigkeit, Identität und so vielem mehr.
So hat der Powwow auch für die Frauen in Rokis Familie eine tiefe Bedeutung. Schon Tawi und Jax haben mit ihrer Mutter getanzt. Die Tradition brachte das Mutter-Töchter-Trio so sehr zusammen, dass Jax den Powwow nach dem Tod der Mutter aufgegeben hat. Der Spaß daran war für sie für immer verloren. Ähnlich ist es auch der Powwow, der Roki und Tawi verbindet und ein zentraler Punkt ihrer Mutter-Tochter-Beziehung ist. So ist es auch die Vorfreude auf den gemeinsamen Tanz, aus dem Roki lange Zeit Hoffnung schöpft ihre Mutter wiederzusehen. Schließlich ist Tawi nicht zum ersten Mal verschwunden, zum Powwow ist sie aber immer zurückgekehrt.
Mit diesem Blick auf familiären Zusammenhalt verbunden mit kulturellem Wissen geht es Regisseurin Tremblay, selbst Teil der Seneca-Cayuga Nation, und Co-Drehbuchautorin Miciana Alise weniger darum, perfekte Vorbilder zu zeigen. Vielmehr beschreiben sie in Jax eine Figur, deren Verständnis für und Verbundenheit mit ihrer Nichte, die in der offenen Verhandlung der eigenen indigenen Identität gründet, schwerer wiegen als ein Richten über ihr unstetes Leben. Auf diese innerhalb der Seneca-Cayuga Nation fließenden matrilinearen Rollen macht Fancy Dance durch den Gebrauch der nahezu ausgestorbenen Sprache Cayuga aufmerksam. In einer entscheidenden Szene fordert Roki Jax lautstark dazu auf ihre zentrale Rolle in der Familie anzuerkennen: „knohá:ˀah“, das Cayuga-Wort für „Tante“, bedeutet auch gleichzeitig „kleine Mutter“. In diesem Familiendrama verschwimmen aber nicht nur sprachlich die Grenzen zwischen sonst oft eher klassisch abgesteckten Rollen von Elternschaft, sondern auch im alltäglichen Umgang von Roki und Jax miteinander: Als Roki auf dem Road Trip zum Powwow zum ersten Mal ihre Periode bekommt, ist es Jax, die ein improvisiertes Initiationsritual durchführt. So wird im Laufe des Films immer klarer, dass die „Mutterrolle“ in der Familie nicht nur Tawi zugeschrieben wird, sondern dass Rokis und Jax’ Beziehung auf ähnlicher Ebene funktioniert. Egal, was die Vorschriften des Jugendamts sagen, Jax hat schon vor langer Zeit die Hauptverantwortung für die Familie übernommen.
In dieser Verortung von indigenem matrilinearen (Zusammen-)Lebens in den USA der heutigen Zeit schafft Tremblay ein Familienbild in vielerlei kleinen, manchmal nahezu abseitigen Momenten und kreiert ein Crime-Road Movie, das auf für das Genre typische Verfolgungsjagden und andere Spannungselemente fast komplett verzichtet. Vielmehr stützt sich Fancy Dance auf das Duo Gladstone/Deroy-Olson, dessen ruhiges Zusammenspiel einen unaufgeregten wie tief emotionalen Film bestimmt. Deroy-Olson macht dabei die Unsicherheiten der 13jährigen Hauptfigur besonders spürbar. Fancy Dance packt viel in seine etwas über 90minütige Laufzeit. Nicht jedem Aspekt wird dabei unbedingt die Aufmerksamkeit zuteil, die er verdient hätte. So fehlt zum Beispiel der finalen Darstellung des Powwows doch etwas Leinwandzeit, um dessen körperliche wie emotionale Intensität noch besser fassen zu können. Auch wie sich das einst engere Verhältnis von Jax und Tawi zu ihrem weißen Vater Frank hin zu einer Entfremdung entwickelte, wird nur in groben Zügen angeschnitten.
Die besondere Stärke von Fancy Dance ist aber an anderer Stelle zu finden: Seine Verweise auf institutionalisierten Rassismus der USA in Bezug auf indigenen Nationen. In Auseinandersetzungen mit dem Jugendamt, Racial Profiling in Begegnungen mit den Grenzkontrollbehörden der USA und vor allem in Jax‘ Kampf um Gerechtigkeit bei der Suche nach ihrer Schwester schildern Tremblay und Alise rassistische Erfahrungen, denen indigene FLINTA ausgesetzt sind. So ist Fancy Dance am Ende vor allem ein Film über den Schatten, den eine vermisste indigene Frau, Mutter und Schwester hinterlässt. Die geringe Besorgnis, die Tawis Verschwinden für Personen außerhalb der Familie erregt, spricht über ihre Unsichtbarkeit als indigene Person, als alleinstehende Mutter und als Sexarbeiterin. Es sind der Unwillen und das Versagen der Polizei, die beispielhaft für eine maximale Gleichgültigkeit stehen, die verschwundenen Frauen wie Tawi entgegengebracht wird. Denn die ungeklärten Umstände von Tawis plötzlichem Verschwinden beschreiben kein Einzelschicksal.
Die Missing and Murdered Indigenous Women (MMIW) und ihre Fälle, gebunden an verschiedene Formen von Gewalt, gelten in den USA und Kanada als humanitäre Notlage. Genaue Zahlen, wie viele indigene Frauen und Mädchen jedes Jahr verschwinden oder zu Tode kommen, können nur geschätzt werden. Eine Mischung aus Gleichgültigkeit gegenüber indigenen Identitäten von behördlicher Seite, fehlender finaler Klärung nationaler Zugehörigkeit und unklarer Zuständigkeitsbereiche (da Reservate zwar Selbstverwaltungsrechten der indigenen Nationen unterliegen, aber finale Rechtsprechung immer noch staatlichen Behörden unterliegt) machen genaue Zahlen unmöglich. Fälle werden oft nicht ernst genommen und eine Dringlichkeit zur Nachverfolgung des Verbleibs der Verschwundenen ist gering.
Ein Bericht von 2016 des Urban Indian National Health Institute schildert diese Versäumnisse in Zahlen an anderer Stelle. So berichtet das National Crime Information Center, dass es 2016 5,712 Fälle von verschwunden indigenen Frauen und Mädchen in Nordamerika gab, davon aber nur 116 in die offizielle Datenbank der National Missing and Unidentified Persons System (NamU) des Justizministeriums der Vereinigten Staaten aufgenommen wurden. Fälle von Gewalt liegen auf Reservaten 10fach über dem nationalen Durchschnitt, Mord gilt als drittgrößte Todesursache bei indigenen Frauen. Es sind Einblicke in eine Lücke in der Aufarbeitung der Fortführung kolonialer Gewalt, die bis heute klafft.
Fancy Dance verhandelt diese schmerzhaften Realitäten, in denen um grundlegende Menschenrechte und Formen von Gerechtigkeit gekämpft werden muss, in denen Menschen unsichtbar gemacht werden und Selbstbestimmung auch immer nicht gern gesehener Widerstand gegen weiße Vorherrschaft ist. Jax und Rokis Reise gestaltet sich so nicht nur als Spurensuche nach Tawi, sondern auch als eine, die Tante wie Nichte durch matrilineare Überlebensstrategien von Tanz bis Trauer zueinander führt.
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