Blockbuster-Check: Atomic Blonde

Weil der Bechdel-Test zwar ziemlich cool ist, aber dennoch manchmal zu kurz greift, nehme ich im Blockbuster-Check Mainstream-Filme hinsichtlich einzelner Elemente kritisch unter die Lupe.

Achtung: Auf Grund der Herangehensweise kann der Blockbuster-Check nicht spoilerfrei sein

Held_innen

An einer Sache besteht kein Zweifel: Atomic Blonde hat eine echte Heldin. Und was für eine! Lorraine Broughton (Charlize Theron) ist eine Superagentin wie sie im Buch steht, schlagfertig in Wort und Tat, versiert mit Waffen, Fäusten und Fremdsprachen, ausgestattet mit einer stahlharten „Du kannst mir gar nichts“-Miene und der wundersamen Fähigkeit, Pistolenkugeln auszuweichen. Zu keinem, aber wirklich absolut keinem einzigen Zeitpunkt ist sie auf die Rettung durch eine männliche* Figur angewiesen.

Ihr Pokerface ist nahezu lückenlos, was Lorraine Broughton zu einer besonders schwer zugänglichen Frauen*figur macht. Was wir bei männlichen* Charakteren ohne Weiteres als bewundernswerte Stärke abzuheften bereit sind, stellt bei dieser Heldin zunächst eine Hürde dar: Hauptdarstellerin Charlize Theron will uns mit ihrer Mimik aber auch wirklich keine Spur von Einblick in die Seele ihrer Figur gewähren. Es ließe sich darüber diskutieren, ob diese Aneignung genuin männlicher* Heldencharakteristika für das Empowerment der Frauen*figur zwingend notwendig ist. Wonder Woman beispielsweise arbeitet mit einer Heldin, die Kraft und Durchsetzungsstärke mit Empathie und intensiven Gefühlen verbindet. Lorraine Broughton ist als Hard Boiled Heroine der absolute Gegenpart. Und so kommt es auch, dass Atomic Blonde das fast Unmöglich gelingt und eine Heldinnengeschichte ohne Love Story zu erzählen weiß. Broughton mag als Rache für den Mord an einem Liebsten ins Feld ziehen – auch das übrigens eine zauberhafte Aneignung männlicher* Heldenkonstruktion – aber mit einer Liebesgeschichte haben die folgenden Ereignisse herzlich wenig zu tun.

© Universal

Nur ganz am Ende schenkt der Film seiner Hauptfigur einen Moment der Emotionalität. Lorraines zarte und gefasste Tränen sind aber nicht nur Ausdruck der vorübergehenden Trauer, sondern auch der Erschöpfung nach einem Höllenritt durch Feindesgebiet. Die Heldin zeigt hier keine Schwäche, sondern entfaltet eine weitere Facette ihres Charakters, eine genuin menschliche, die ihr eine andere, umfassendere Form der Stärke verleiht als die eiserne Maske der grenzenlosen Überlegenheit.

Gegenspieler_innen

Auf den ersten Blick hat die Seite des Bösen tatsächlich keine einzige Frauen*figur zu bieten. Auf den zweiten Blick aber ist Atomic Blonde ein Film, dem es unter anderem auch darum geht, die Gegenüberstellung von Gut und Böse in Zweifel zu ziehen. Wer hier Held_in oder Bösewicht_in ist, kann nicht eindeutig geklärt werden. Festzustellen ist jedoch ein klares zahlenmäßiges Ungleichgewicht, dass Lorraine Broughton als klassische „Schlumpfine“ in ein fast ausschließlich männliches* Universum platziert.

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Geschlechterrollen allgemein

Und damit sind wir auch schon direkt bei einem allgemeinen Blick auf die Verhandlung von Geschlechterrollen in Atomic Blonde, der für den Film leider nicht besonders gütlich ausgeht. Einerseits werden Geschlechterkonstruktionen in Kampfszenen vollkommen ausgehebelt und bei der Frage, wer wen mit welcher Intensität und Arglist vermöbelt, spielen Pronomen nicht nur eine untergeordnete, sondern überhaupt keine Rolle.

Andererseits gibt es neben Lorraine Broughton nur noch eine weitere für die Handlung relevante Frauen*figur, nämlich die französische Agentin Delphine Lasalle (Sofia Boutella), die leider all jene Klischees bestätigt, die Lorraine zu dekonstruieren sucht. Lasalle nämlich ist von ihrem Beruf sichtlich überfordert – ein Gemütszustand, dem sie an einer Stelle sogar tränenreich Ausdruck verleiht. Als Zuschauende fragen wir uns ein wenig, wie sie jemals in diesem Setting hat landen können, scheint sie doch in keinerlei Hinsicht die notwendigen Stärken mitzubringen. Als Antwort bleibt nur ihre Funktion für die Handlung, die vornehmlich leider nicht in ihrer Profession, sondern in ihrer Attraktivität besteht, denn es ist Delphine, die zwar nicht als Love Interest, aber doch als Objekt der Begierde für die Heldin fungiert – was dem Film nebenbei eine Portion Queerness verleiht.

Alle übrigen Nebenfiguren in Atomic Blonde sind männlich* besetzt, egal auf welcher Seite sie kämpfen oder in welchem Kontext sie auftreten. Als beispielsweise eine Gruppe illegal feiernder Jugendliche festgenommen wird, findet sich unter ihnen nicht eine einzige Frau*! Die männliche* Übermacht wirkt in Szenen wie dieser sehr gewollt und erhält an anderer Stelle durch den Kommentar eines männlichen* Gegenspielers, „Frauen stehen dem Fortschritt doch eh nur im Weg“, einen Misogynie-kritischen Beigeschmack. Für einen überzeugenden Subtext, also die bewusste und inhärent kritische Konstruktion eines Männer*universums zur Reflektion realer Sexismusstrukturen, reicht das in meinen Augen allerdings nicht ganz.  Dagegen spricht auch die Figur der Delphine, die mit der heterogen männlichen* Umwelt der Heldin bricht.

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Dresscode und Sex-Appeal

Bei ihrem ersten Auftritt liegt die Heldin nackt und geschunden in der Badewanne, schutzlos und geschwächt. Es handelt sich hier aber nicht um den Blick auf eine versehrte Kriegerin, sondern um eine sexualisierte Darstellung ihres Körpers, die sich durch große Teile des Films zieht. Zwar darf Lorraine Broughton ab und an auch in flachen Schuhen kämpfen, eine echte emanzipatorische Errungenschaft im Actionfilm, doch manchmal müssen es dann doch die High-Heels und der Mini-Rock sein. Immerhin ist sich der Film dieser Idiotie grundsätzlich bewusst. So bemerkt Lorraine an einer Stelle,  dass sie andere Kleidung gewählt hätte, wäre ihr der Hinterhalt, in den sie geriet, vorher bekannt gewesen.

Dieser Anflug einer Meta-Ebene ändert allerdings nichts daran, dass Regisseur David Leitch es augenscheinlich genießt, seine Heldin erotisch zu inszenieren. Und nicht nur sie: Auch Delphine trägt in ihren eigenen vier Wänden am liebsten Unterwäsche und ihrer Rolle als Objekt der Begierde entsprechend fallen ihr natürlich auch in bekleidetem Zustand stets fast die Brüste aus dem Dekolleté. Immerhin bei der einzigen Sexszene hält sich Leitch zurück und entgeht der Versuchung, die lesbische Begegnung auf ein voyeuristisches Schauspiel zu reduzieren.

Dabei ist die Nacktheit der Frauen* selbst nicht das Problem und auch ihre Sexualisierung wäre zu verschmerzen, zumal sie im Falle von Lorraine Ausdruck aktiver und positiv konnotierter Lust ist. Wirklich problematisch ist der spürbare männliche* Blick, der eben ausschließlich (!) Frauen* nackt und in erotisierenden Bildausschnitten einfängt. Und das, wo es in diesem Film doch so viele Männer* gibt!

Wenn sich am Ende die narrative Klammer schließt und wir Lorraines Körper wieder in seinem geschundenen Zustand erblicken, bekommt dieses Bild dann aber doch noch eine weitere Bedeutungsebene: Jetzt sehen wir darin die versehrte Kriegerin. Vielleicht haben wir es zu Anfang nur deshalb nicht bemerkt, weil wir diese Bilder nicht gewöhnt sind, weil Frauen*körper – siehe Wonder Woman – eben auch nach den schlimmsten Schlachten nicht versehrt, nicht dreckig, nicht zerstört sind. Atomic Blonde gönnt seiner Heldin diese Form der Imperfektion, die Schrammen und blauen Flecke: Kriegsmale, die Heldinnentum markieren.

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Dramaturgie

Die Handlung von Atomic Blonde wird größtenteils in der Rückblende und durch Lorraine Broughtons Bericht über die Ereignisse in Berlin erzählt. Die Heldin eignet sich die Macht über ihre Geschichte gleich im doppelten Sinne an: Wo ihre Vorgesetzten ihr darlegen, sie sei lediglich der Gegenstand, also das Objekt, des Gesprächs, etabliert sich Lorraine als Subjekt, das nicht nur von Ereignissen berichtet, sondern auch ihren Verlauf in die eigenen Hände nimmt, ihre eigene Wahrheit konstruiert.

Lorraine Broughton besitzt ein Maß an struktureller Macht wie wir sie selten bei Frauen*figuren im Kino beobachten können und bleibt trotz der Weisungen von Oben stets ihre eigene Chefin – so wie es sich eben für eine richtige Superagentin gehört. Neben Lorraine Broughton wirkt selbst James Bond als sei er lediglich der Schoßhund von M. Immer wieder versuchen verschiedene Männer* die Heldin von ihrem Weg abzubringen, ihr Steine in den Weg zu legen, sie auf die schiefe Bahn zu lenken, doch Broughton lässt sich davon nicht beirren. Dies ist ihre Geschichte und wehe dem, der ihr diese Position streitig macht!

Botschaft

Emanzipation bedeutet, sich als Subjekt der eigenen Geschichte zu etablieren.

Gesamtwertung: 7

von 0 (Sexistische Kackscheiße) bis 10 (Emanzipatorisch Wertvoll)

Kinostart: 24. August 2017

Sophie Charlotte Rieger
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