Berlinale 2025: Zikaden
Das Leben von Isabell (Nina Hoss) und Anja (Saskia Rosendahl) könnte kaum unterschiedlicher sein. Die Endvierzigerin Isabell durchläuft eine Beziehungskrise mit ihrem langjährigen Partner Philipp (Vincent Macaigne) und kümmert sich neben ihrer Tätigkeit als Architektin und Immobilienmaklerin um ihre alternden Eltern, insbesondere den durch einen Schlaganfall körperlich behinderten Vater. Die alleinerziehende Anja hangelt sich von Aushilfsjob zu Aushilfsjob, während Tochter Greta unbeaufsichtigt durch jenes Dorf tobt, in dem Isabells Eltern ein zunehmend verwaistes Ferienhaus besitzen. Dort kreuzen sich die Wege der beiden Frauen.

© Judith Kaufmann / Lupa Film
___STEADY_PAYWALL___Die Welten zwischen den Gesellschaftsklassen, zu denen Isabell und Anja gehören, bleiben unausgesprochen und sind doch omnipräsent. Insbesondere die von Natur aus eher kühle und distanzierte Isabell scheint auf Anja – wenn auch mit wohlmeinendem Interesse – herabzublicken. Anja wiederum sucht aktiv und mit spürbarer Faszination die Nähe der älteren, privilegierten Frau. Eine Beziehungsanbahnung liegt kurz in der Luft und verschwindet dann wieder. Die lesbische Liebesgeschichte bleibt eine diffuse, aber mit Sicherheit bewusst gesetzte Ahnung. Überhaupt ist die Frage nach der Natur von Isabells und Anjas Beziehung eine überflüssige und rein semantische. Die Qualität von Ina Weisses Porträt vom Miteinander ihrer Protagonistinnen liegt eben darin, die Beziehungsanbahnung und -entwicklung jenseits von Labeln zu beobachten.
In ihrem Fokus auf das Private und Individuelle verliert Weisse das Politische, nämlich gesellschaftliche Realitäten, leider zunehmend aus dem Blick. So thematisiert sie einerseits den Pflegenotstand und den Einsatz polnischer Pflegekräfte, zieht hier aber kaum eine kritische Verbindung zu Isabells privilegierter Familie und deren Position und Rolle in vorherrschenden gesellschaftlichen Machtstrukturen. Ohnehin ist Zikaden vornehmlich Isabells Geschichte: Wir sehen Anja eher durch Isabells Augen als umgekehrt und erfahren über Isabell deutlich mehr biografische Details, während große Teile von Anjas Geschichte bis zum Ende unbekannt bleiben. Somit muss auch der im Kino ohnehin schon seltene Blick auf das ländliche Brandenburg, in dem sich ein Großteil der Handlung abspielt, ein Blick von außen bleiben, ein Blick durch die Augen einer privilegierten Städterin. Zudem beleuchtet Ina Weisse in der komplexen Beziehungsanbahnung ihrer Figuren den Klassenunterschied nur im Ansatz: Dass Isabell und Anja sich deshalb schließlich fremd bleiben, weil Augenhöhe über Klassengrenzen hinweg so schwer zu erreichen ist und Anjas Arbeit im Haushalt von Isabells Eltern die Kluft noch vergrößert, wird sich wohl nur einem bereits für Klassismus sensibilisierten Publikum erschließen.
Hier wäre so viel Potenzial gewesen, durch die Aufstellung der Figuren und Familien die verschiedenen Facetten von Sorgearbeit zu beleuchten, ihren Wert in einem kapitalistischen System zu hinterfragen und offenzulegen, wie dieser Wert Gesellschaftsklassen zementiert und voneinander entfernt – obwohl es doch gerade die Sorge füreinander ist, die alle Menschen unabhängig von Gender, Sexualität, Herkunft und körperlichen Fähigkeiten miteinander vereint. Stattdessen droht Ina Weisse mit ihrem Film vorherrschende Machtunterschiede zu normalisieren: Wo Klassenunterschiede sichtbar werden, ohne sie zu kritisieren oder doch zumindest zu hinterfragen, schreiben sie sich fort. Und so liegt in dem versöhnlichen, wenn auch offenen Ende von Zikaden ein Schmerz – ob gewollt oder ungewollt – über unveränderliche Strukturen aus Menschen, die Geld haben, und Menschen, die Geld brauchen, und deshalb Menschen, die Geld haben, unter prekären Arbeitsbedingungen die Sorgearbeit abnehmen.
Zikaden ist bei der 75. Berlinale als Weltpremiere zu sehen.
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