Gut Gebrüllt: Julia C. Kaiser über DIE HANNAS & sexualisierte Gewalt auf der Leinwand
Julia C. Kaiser gehörte mit ihrem Film Das Floß zu den ersten Stimmen meiner GUT GEBRÜLLT Interview-Reihe. Nun kommt ihr zweiter Spielfilm, Die Hannas, ins Kino, eine in vielerlei Hinsicht ungewöhnliche Liebesgeschichte, in der es unter anderem auch um den Umgang mit sexualisierter Gewalt geht. Aufbauend auf meine eigenen Überlegungen, wie im Frühjahr in meinem Artikel zum Tatort: Nachbarn dargelegt, und natürlich Julias neuem Film, haben wir uns in einem Berliner Biergarten für eine neue GUT GEBRÜLLT Runde mehr als zwei Stunden über das Thema sexualisierte Gewalt und ihre Darstellung in Film und Fernsehen unterhalten. Wo liegt eigentlich der Hase im Pfeffer? Und was hat die Diskussion über geschlechtersensibles Filmemachen mit dem Klimawandel zu tun? Die Antworten gibt’s hier.
„Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Sex zu tun.“
Filmlöwin: In Deinem Film thematisierst Du sexualisierte Gewalt ebenso wie Gewalt als Teil von einvernehmlichem Sex und stellst beides einander gegenüber.
Julia C. Kaiser: Sexualisierte Gewalt hat nichts mit Sex zu tun. Man kann noch nicht mal sagen, Sex wird dafür missbraucht, Gewalt auszuüben. SM und sexualisierte Gewalt haben also nichts miteinander zu tun. Es ist mir total wichtig, das klarzumachen. Und wenn man da nicht genau ist in der Darstellung, dann vermischt sich das ganz schnell.
In Die Hannas spielt sexualisierte Gewalt auch eine zentrale Rolle. Worum ging es Dir dabei?
Bei Die Hannas war mein Antrieb, Frauen* zu erzählen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, aber nicht die Opfer davon sind. Weil es mir zu häufig passiert im Bereich Kino oder Fernsehen, dass zwar das Thema sexualisierte Gewalt, Missbrauch, Vergewaltigung erzählt wird, aber die Frauen*, denen es passiert, als Opfer erzählt und dadurch automatisch stigmatisiert und schwächer werden.
„Ich hatte den Wunsch, diese Figuren zuerst mal als vital, gesund, lebensfähig und aktiv zu zeigen.“
Wodurch zeichnet sich ein Opfer aus? Inwiefern sind Deine Figuren keine Opfer?
Mir war es wichtig bei Nico und Kim, bei den beiden Figuren, die den Missbrauch durch den Vater erlebt haben, zu zeigen, dass sie das bereits überwunden haben. Sie haben diese tiefe Verletzung erfahren und das ist etwas, das sie ihr ganzes Leben lang mit sich tragen werden und das hat sie gezeichnet und sie geprägt und das spürt eins bei den Figuren auch. Aber der Täter hat keine Macht mehr über ihr Leben, sondern sie bestimmen ihr Leben selbst. Deswegen habe ich mich dafür entschieden, diese Geschichte aus der Vergangenheit erst sehr, sehr spät an einer ganz dezentralen Stelle zu thematisieren. Ich hatte den Wunsch, diese Figuren zuerst mal als vital, gesund, lebensfähig und aktiv zu zeigen. Und darum habe ich mich auch dagegen entschieden, den Vater auftreten zu lassen. Das hätte ihm im wahrsten Sinne des Wortes zu viel Gewalt über die Geschichte von Nico und Kim gegeben.
Warum ist es trotzdem wichtig für die Geschichte, dass die beiden Frauen das erlebt haben?
Was mir häufig an der Darstellung von solchen Themen missfällt, ist, dass Figuren in dieser Verletzung, in diesem Trauma verharren. Die ganze Geschichte geht immer nur darum, wie jemand lernt, dieses Trauma zu überwinden. Für mich ist es aber eine ganze andere Botschaft, eine Figur zu erzählen, die so etwas erlebt hat, und der zugestanden wird, sich wie jede andere Figur auch über Liebe und Glück Gedanken zu machen.
Ich glaube, dass sich viele Menschen oft nicht für das Thema „sexualisierte Gewalt“ an sich interessieren, sondern für den Plot-Mechanismus oder einfach nur ein Verbrechen für einen Krimi suchen.
Das kann gut sein. Ganz frei nach dem Motto, wir suchen ein besonders schlimmes Vergehen und das ist eben die Vergewaltigung. Oder der Missbrauch.
„Warum wird jemand handlungsunfähig gemacht?“
Was glaubst Du, warum ist das so attraktiv?
Meine Vermutung ist, dass das ein Teil von vorgefertigten Rollenmustern ist. Wenn du ein Geschlecht permanent zeigst, wie es Opfer von einer spezialisierten Gewalt wird, schaffst du auch ein klischeesiertes Bild des Opfers: das des weiblichen* Missbrauchsopfers. Genauso wie wenn man Frauen* permanent als Fee oder als Prinzessin zeigt, gibt es eben auch ein Archetyp der missbrauchten und der vergewaltigten Frau*. Aber sobald jemand in ein solches Archetyp hineingesteckt wird, wird si_er auch handlungsunfähig. Und jetzt steht da natürlich die Frage: Warum wird jemand handlungsunfähig gemacht? Und ich glaube, das hat mit Trägheit zu tun. Mit dem Unwillen, die Dinge mal umzudrehen und genauer anzugucken und sie sich nicht so leicht zu machen.
Und warum war es Dir so wichtig, diese beiden Themen nebeneinander zu stellen, also die sexualisierte Gewalt und die mit Gewalt aufgeladene Sexualität?
Beim Verfolgungs- und SM-Spiel zwischen Hans und Kim war es mir wichtig, genau festzuhalten: Es gibt ein Codewort, es gibt eine Absprache. Und sobald dieses Codewort, dieses ‚Halt-Stopp‘, dieses ‚Nein!‘ gesagt wird, hört Hans sofort auf. Nur so bleibt es ein Spiel. Und wenn dieses Codewort nicht besteht, ist es kein Spiel mehr, sondern Gewalt.
Ich kann Dir einen Film nennen, wo das meisterlich funktioniert: Secretary. Dieser Film bringt es total gut hin, ganz vielschichtig, sehr klug und sehr witzig vor allem, zu erzählen, was es bedeutet, wenn zwei Menschen miteinander spielen und eine Verabredung treffen. Was auch ein Alleinstellungsmerkmal bei Secretary ist: Es geht darum, IHR Glück zu finden. Es ist ihre Geschichte. Und sie muss am Ende um ihn kämpfen. Was leider ungewöhnlich ist, weil in vielen Filmen, in denen SM thematisiert wird, die Frau* vollkommen passiv ist und zur Empfängerin wird – auch ein Rollenklischee.
„So ein Thema kann auch so gedreht und gewendet werden, dass daraus neue Lügen entstehen.“
Wir haben in Deutschland definitiv ein Problem mit sexualisierter Gewalt, mit dem Verständnis von Consent und mit einer „rape culture“ allgemein. Jetzt ließe sich natürlich auch argumentieren: Ist ja super, dass das Thema so oft im Film vorkommt.
Da liegt der Hase im Pfeffer. Du kriegst ja nicht eine Eins mit Stern, nur weil du ein Problem überhaupt thematisierst. Wenn eins das Thema falsch angeht oder immer nur zur Hälfte, dann macht es keinen Sinn. So ein Thema kann auch so gedreht und gewendet werden, dass daraus neue Lügen entstehen.
Meinst Du damit „rape culture“ Mythen?
Wenn wir über sexualisierte Gewalt und von der Schwierigkeit sprechen, herauszufinden ob es einen Konsens gab oder nicht, dann ist das ein Mythos. Ich glaube, es ist immer klar, ob es einen Konsens gegeben hat oder nicht. Es ist die Verantwortung von jeder_m, sich in diesen Situationen darüber klar zu werden. Und es ist mein Wunsch, dass wir es schaffen, endlich über sexualisierte Gewalt zu sprechen, ohne uns von dieser Lüge stoppen zu lassen.
„Künstlerische Freiheit und die korrekte Darstellung von Situationen oder Verhältnissen widersprechen sich nicht.“
Müssen wir Vergewaltigung überhaupt zeigen? Bildlich? Sollten wir? Dürfen wir?
Ich glaube, grundsätzlich sollte es die Freiheit geben, alles zeigen und erzählen zu dürfen und auch alles denken und sagen zu dürfen. Ich glaube, es ist die Frage, in welchem Rahmen und mit welcher Haltung dies geschieht. Wenn du eine ambivalente Sexszene zeigst, in der nicht klar ist, ob das Sex ist oder eine Vergewaltigung, dann hast du auch dazu eine Haltung, weil dann möchtest du eine ambivalente Situation darstellen.
Aber Künstlerische Freiheit und die korrekte Darstellung von Situationen oder Verhältnissen widersprechen sich nicht. Ich glaube, nur weil eins plötzlich politisch korrekt ist oder Gewalt korrekt darstellt, heißt das nicht automatisch, dass künstlerische Freiheit verlorengeht, sondern einfach nur, dass eins genau nachdenkt und genau erzählt. Das gilt nicht nur für sexualisierte Gewalt, sondern für alle Klischees.
Viele sehen das ja ganz anders, also dass diese Art von Überlegungen die künstlerische Freiheit eben sehr stark einschränken.
Ganz im Gegenteil: Es schafft neue Inhalte. Es wird oft als ungewöhnlich empfunden, dass die sexualisierte Gewalt in Die Hannas so am Rand steht. Ich bin der Meinung, wir müssen achtsam mit dem Thema umgehen, aber es darf nicht alle anderen Erzählstränge der Geschichte dominieren. Das wäre für mich ‚über das Ziel hinausgeschossen.’ Durch solche neuen Herangehensweisen können meiner Meinung nach neue Erzählwege entstehen.
Vielleicht bin ich da auch zu naiv, aber ich denke, wenn wir die Frauen*-Regie-Quote haben, gibt es auch einen differenzierteren Umgang mit dem Thema sexualisierte Gewalt.
Es geht um Vielfalt. Und diese Vielfalt soll allen Rollen und allen Modellen und allen Bildern zugedacht werden. Und ich glaube, je mehr verschiedene Leute eine Geschichte erzählen oder ihre Geschichte erzählen, desto größer wird die Vielfalt und das kann nur gut sein für unsere Kultur und unsere Gesellschaft.
„Diese Diskussion kommt mir vor wie die über den Klimawandel.“
Vielfalt ist an sich erst einmal gut. Aber zu dieser Vielfalt gehören dann eben auch die eben angesprochenen ambivalenten Haltungen zu sexualisierter Gewalt. Das ist doch problematisch, denn wenn ich immer wieder Filme mit so einer Haltung sehe und das nicht kritisch reflektiere, dann werde ich diese Haltung wahrscheinlich auch irgendwann haben.
Ja, das glaube ich auch. Du hast eine Gesellschaft, die gewisse Bilder, Modelle und Rollen prägt, die sie in ihren Geschichten widerspiegelt. Aber es geht auch in die andere Richtung: Du kannst auch mit den Geschichten gewisse Rollen, Modelle und Ideen der Gesellschaft aufprägen.
Wir müssen meiner Meinung nach in diesen ganzen Diskussionen – über die Darstellung von sexualisierter Gewalt, über die Regie-Quote oder wenn es um die Studie von Maria Furtwängler geht – endlich über den Punkt hinauskommen, darüber zu diskutieren, ob es diese Wechselwirkung zwischen erzählter und gelebter Realität überhaupt gibt. Weil die gibt es. Diese Diskussion kommt mir vor wie die über den Klimawandel. Den Klimawandel gibt es! Wir brauchen nicht darüber zu diskutieren, sondern wir müssen darüber sprechen, wie wir etwas ändern!
Das bleibt mir nur noch zusagen: Gut gebrüllt, Julia! Ich freue mich schon jetzt auf unser nächstes Interview!
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Wenn ich als erwachsene Person, Kindheitstraumata re-inszeniere und dadurch Kontrolle ausüben kann, entfaltet das durchaus entlastende Wirkung. Als vorübergehende Phase der Distanzierung von traumatisierenden Erfahrungen im Zusammenhang mit Sexualität sind SM-„Spielchen“ geeignet. Eine Aufarbeitung ersetzen sie nicht. Das ungesunde, zerstörerische Bindungsmuster der Kindheit bleibt erhalten und wird im sexuellen Bereich manifestiert. Wer als Junge oder Mädchen von der eigenen Mutter bzw. dem eigenen Vater sexuell missbraucht wurde, hatte gar keine Eltern. Sondern Ausbeuter der übelsten Sorte. Menschen, die an einer der wichtigsten Lebensaufgaben auf widerwärtigste Weise gescheitert sind. Solche Personen sind keine Vorbilder, weshalb die Aufarbeitung und Nachbereitung einer Kindheit, die es in Wirklichkeit nie gab, oft genug eine Lebensaufgabe bleibt. Die meisten Opfer bewerkstelligen sie, weshalb sie in großer Zahl ohne besondere Auffälligkeiten mitten unter uns leben.
Angelika Oetken, Berlin-Köpenick, eine von 9 Millionen erwachsenen Menschen in Deutschland, die in ihrer Kindheit und/oder Jugend Opfer schweren sexuellen Missbrauchs wurden
Liebe Angelika,
lieben Dank für Deinen sehr persönlichen und offenen Kommentar. Ich hoffe, es ist nicht der Eindruck entstanden, Julia C. Kaisers Film wolle BDSM als Aufarbeitungsstrategie darstellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das nicht die Intention war und dass nicht einmal zwingend eine kausale Verbindung zwischen dem Missbrauch durch den Vater und den sexuellen Vorlieben der Protagonistin hergestellt wird. So wie ich die Regisseurin und ihren Film verstehe, geht es viel mehr darum, ein anderes der vielen verschiedenen Bilder davon zu zeichnen, wie sexualisierte Gewalt erlebt und verarbeitet wird, bzw. den eklatanten Unterschied zwischen sexualisierter Gewalt und dem einvernehmlichen Spiel mit Macht und Unterwerfung zu markieren.
@filmloewin,
dass BDSM eine Aufarbeitungsstrategie darstellen könnte, ist meine These. Denn bei familiärem Kindesmissbrauch spielen Emotionsregulationsstörungen genauso eine wichtige Rolle, wie die Unfähigkeit, die notwendigen zwischenmenschlichen Grenzen zu ziehen. Die kindlichen Opfer werden von den TäterInnen, meistens ihren eigenen Müttern, Vätern bzw. deren LebensgefährtInnen nicht nur sexuell missbraucht, sondern auch als seelisches Stimulans. Wer in so ein Gefüge hinein wächst, kennt nichts anderes und wird entsprechend geprägt. Oft geht den Betroffenen erst viel später im Leben, längst selbst erwachsen geworden auf, dass sie in Wirklichkeit gar keine Eltern hatten. Sondern mit emotionalen und sexuellen AusbeuterInnen aufwachsen mussten. Da Aufmerksamkeit, Zuwendung und oft auch Sachbelohnungen an sexuelle Kooperation und sexualisierte Stimuli gekoppelt sind, fällt es solchen Opfern sehr schwer, später gleichrangige Beziehungen und intime Kontakte zu leben. Für sie bleiben insbesondere sexuelle Kontakte ein Raum, in dem Sex mit Kontrolle, Über-Erregtheit, (Schmerz-)Reizen und der nachfolgenden Endorphinausschüttung verbunden bleibt. Beziehung wird gespielt, aber nicht gelebt und deshalb verharren diese Menschen oft in einem Zustand der emotionalen Unreife.
Ein ähnlicher Effekt stellt sich beim Ritzen ein. Etwas, das typisch ist für Pubertierende. Später landen die Betroffenen oft in dysfunktionalen Beziehungen, in denen die Muster wiederholt d.h. reinszeniert werden.
Ein Weg daraus, bevor das Ganze an die eigenen Kinder weiter getragen wird, geht über eine psychotraumatologische Behandlung. Die wird bei gesetzlich Versicherten von der Krankenkasse getragen.
VG
Angelika Oetken
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[…] wurde dieser, zu allem Übel ja auch nicht sonderlich warme, Sommer durch ein Interview mit Julia C. Kaiser. Ihr Film Die Hannas hatte mich beim Achtung Berlin Festival unheimlich begeistert und als wir uns […]
[…] Hannas ein so gelungener Film ist, kann hier meine Kritik nachlesen. Außerdem habe ich ein langes Interview mit Julia C. Kaiser geführt, in dem sie über die Darstellung sexualisierter Gewalt im Film gesprochen hat, da dieses […]