Luchadoras

Ciudad Juaréz, eine mexikanische Stadt nahe der US-amerikanischen Grenze, gilt als gefährlichster Ort der Welt. Sie liegt mitten in der Wüste, deren nächtliche Dunkelheit sich wie ein Schleier über so manches Verbrechen legt. Der sogenannte „Krieg gegen die Drogen“ der USA hat hier unübersehbare Spuren hinterlassen. Angst gehört zum Alltag, besonders für Frauen. Die Rate der Femizide in Ciudad Juaréz ist hoch; auf Billboards und Postern fahnden Familienmitglieder nach vermissten Müttern und Töchtern. Zahlreiche Frauen, die zu Billiglöhnen in den umliegenden US-Fabriken arbeiten, wurden seit den 90er Jahren auf dem Weg zur Arbeit ermordet.

Auf der anderen Seite des Grenzzauns liegt El Paso, eine der sichersten Städte der USA. Dort leben die beiden Töchter einer der Heldinnen des Dokumentarfilms Luchadoras von Paola Calvo und Patrick Jasim mit ihrem Vater, der ihnen den Kontakt zur Mutter verwehrt. Sie möchte zu ihren Kindern, doch es ist ein langwieriger Prozess mit unsicherem Ausgang. Obwohl die beiden Mädchen bloß wenige Kilometer von ihr entfernt sind, scheint es so, als lebten sie in einer anderen Welt.

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Auch sie selbst ist in mehreren Welten zu Hause. Bei ihrer Arbeit für ein Bestattungsunternehmen ist sie oft nah dran an den schrecklichen Gewalttaten, die Frauen in ihrer Stadt heimsuchen – durch Fremde, aber vor allem die eigenen Partner. Nach Feierabend aber verwandelt sie sich in eine Superheldin: Unter dem Namen Lady Candy steht sie als Wrestlerin, als Luchadora, im Ring und beweist Kampf für Kampf, dass sie verdammt viel einstecken, aber auch verdammt gut austeilen kann. In Luchadoras stellen die Regisseur:innen Paola Calvo und Patrick Jasim mit Lady Candy, Baby Star und Mini Sirenita (die im Film nur unter ihren Pseudonymen auftreten) drei Frauen vor, die sich trotz aller Widrigkeiten Tag für Tag, Nacht für Nacht in der Männerwelt Wrestling und in der Männerwelt um sie herum behaupten.

Lucha Libre (dt. Freistilkampf), der traditionsreiche mexikanische Ringkampf, ist weltweit für seine bunten Masken und seinen harten Kampfstil bekannt. Die Mischung aus Kampfsport und gescripteter Unterhaltung ist in Mexiko beinahe so beliebt wie Fußball. Die meisten der Wrestler:innen sind bis heute männlich – auf rund 200 Wrestler kamen 2016 nur 18 Wrestlerinnen. Obwohl bereits 1955 die ersten Kämpfe mit weiblicher Beteiligung stattfanden, werden Frauen, die den typisch männlichen Sport ausüben, oft angefeindet. In den „Lucha-Familien“ hat der Kampf eine lange Tradition – so werden die Kinder von Sportler:innen oft schon früh in die Welt des Lucha Libre eingeführt. Baby Star trainiert jetzt ihre jüngere Schwester, die als Little Star gemeinsam mit ihr auftritt. Ihre eigene kleine Tochter sieht sie aber mit gemischten Gefühlen im Ring herumklettern; neben der sozialen Ächtung droht Kämpferinnen schließlich auch eine reale Verletzungsgefahr, die nicht zu unterschätzen ist.

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Lucha Libre ist in Profi-Arenen ebenso zuhause wie in Hinterhöfen – und im Kino. Mit den Lucha-Filmen hat sich aus dem Sport, beginnend in den 30er Jahren, ein eigenes Genre entwickelt. Die meisten der Filme sind rein männliche Selbstermächtigungsfantasien, in denen Wrestler als Superhelden gegen Verbrecher oder Monster ins Feld ziehen. Erst 1963 erschien mit Las Luchadoras Vs. El Medico Asesino (dt. Die Luchadoras gegen den Assassinen-Doktor) der erste Film über Wrestlerinnen. Luchadoras enthält zwar keine Spielfilmelemente, dafür entfalten die Szenen, in denen sich die Kämpferinnen in der Stadt und der Wüste in ihren Kostümen inszenieren, eine ähnlich mythische Kraft. Doch sogar während dieser Aufnahmen werden die Frauen von bedrohlichen Typen verfolgt; ihre Angst und Wut sparen die Regisseur:innen nicht aus. Mit Gewalt zerbricht die Realität das Spiel und erinnert daran, dass auch die stärkste Frau ständig auf der Hut sein muss.

Im Ring vermöbeln die Luchadoras reihenweise gefährlich aussehende Typen, werden aber auch selbst von ihren männlichen Co-Stars an den Haaren gerissen und durch die Gegend geschleudert, geschlagen und getreten. Baby Star, die in der Öffentlichkeit nur maskiert auftritt, wird in einem Akt der Demütigung die Maske vom Gesicht gerissen. Die Aufnahmen von den Kämpfen gehen richtig unter die Haut – was hier echt ist und was gespielt, das ist oft gar nicht so leicht auseinander zu halten. Im Ring werden die realen Gewalterfahrungen, die Frauen tagtäglich wiederfahren, ausagiert, und das in einer Intensität, wie sie wohl kein anderes Medium entfalten könnte. Umso befreiender ist es natürlich, wenn sie schließlich zurückschlagen. Befreiend ist es aber auch, wenn dieser Gender-Aspekt einfach wegfällt und nur Frauen gegeneinander antreten. Alles wirkt dann irgendwie leichter, obwohl es dabei genauso hart zur Sache geht. Neben dem Training für die Wettkämpfe organisieren sie Selbstverteidigungskurse im Ring, zeigen auf feministischen Demos Präsenz und unterstützen einander bei ihren privaten Kämpfen.

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Paola Calvo und Patrick Jasim zeigen in Luchadoras ihre Heldinnen in vielen Facetten – als Kämpferinnen, Mütter und Freundinnen, mit all ihren Sehnsüchten und Ambitionen. Spannungsgeladene Bilder und ein wirkungsvoller Score transportieren die staubtrockene Atmosphäre der Stadt, die ihre Träume täglich zu ersticken droht. Ebenso aufmerksam widmet sich der Film aber auch der Liebe der drei Frauen zu ihren Familien und zu dem wilden und gefährlichen Sport, an den sie ihre Herzen verloren haben. Suchend flattert die eigensinnige, detailverliebte Kamera durch die Stadt, findet immer neue Irrungen, Wirrungen und Widersprüche in einer Welt, die keine klaren Antworten liefern will. Ein toller Film, der bisweilen so weh tut wie ein Knie in der Magengrube, aber immer auch die Möglichkeit offen lässt für ein Happy End.

über die Gast-Löwin

Eva Szulkowski hat Literatur- und Filmwissenschaft in Mainz studiert und schreibt als selbstständige Kulturjournalistin über Filme, Serien, Videospiele und Musik. Nach der Pandemie wird sie wieder in der lokalen Kulturszene aktiv sein und auf ALLE Konzerte gehen. Derweil hockt sie im Homeoffice und postet lustige und traurige Gedichte auf Facebook. Sie liebt Spaziergänge, Kunst, intersektionalen Queerfeminismus und ihre sehr vielen Katzen. Ihre Texte sammelt sie auf www.spelunkenjenny.wordpress.com.