Lesestoff: Von HARRIET zu QUEEN & SLIM

In Von HARRIET zu QUEEN & SLIM: Afroamerikanische Regisseurinnen und ihre neuen Bilderwelten versammelt Filmwissenschaftlerin Karen A. Ritzenhoff Filme und TV-Produktionen Schwarzer Regisseurinnen des zeitgenössischen US-Kinos.

© Schüren Verlag

Ritzenhoff untersucht die Auswahl sowohl im Kontext der Black-Lives-Matter-Bewegung als auch mit Blick auf die Geschichte der Sklaverei und das Civil Rights Movement in den USA. Dabei findet sie Verbindungen zwischen heute und damals, zeigt, wie historische Ereignisse um Rassismus, Gewalt und Rechtsextremismus in Filmen von hoher Aktualität Form annehmen und wirken. Ritzenhoff konzentriert sich bei der Analyse der Filmerzählungen – wie auch im Titel ihres Buchs bereits erwähnt – auf „Bilderwelten“: eine visuelle „Filmsprache“, die zwischen Blackness (S. 24), der Geschichte des Schwarzen Kinos und der Kunst sowie Unterhaltung der Hollywood-Trends navigiert. ___STEADY_PAYWALL___

Sozialkritik im Kino der Gegenwart

Ritzenhoff verwurzelt ihre Untersuchung der vorliegenden Filmografien fest im Hier und Jetzt. Sie spricht die Morde an Trayvon Martin und George Floyd an, umreißt Rückschritte der von Executive Orders bestimmten Trump-Regierung. Diese will Feierlichkeiten zum Juneteenth und Black History Month unterbinden, proklamiert DEI-Programme in Unternehmen als rechtswidrig und schreibt US-amerikanische Geschichte im Zuge eines Mythos der strukturellen Diskriminierung gegen Weiße um. 

So ist Von HARRIET zu QUEEN & SLIM eine wichtige Sammlung, die Schlaglichter auf Filme Schwarzer US-Regisseurinnen in diesem gesellschaftlichen wie politischen Kontext amerikanischer Geschichte und Gegenwart wirft. Unter den besprochenen Werken finden sich filmische Arbeiten von Melina Matsoukas, Kasi Lemmons, Ava DuVernay, Nia DaCosta, Halle Berry, Regina King und Chinonye Chukwu. Die titelgebenden Queen & Slim und Harriet fügen sich dabei in eine Auswahl ein, die durch die Genres reist: Road Movie, Horror (Eve’s Bayou), Historienfilm (Selma), Actionfilm (The Marvels), Dokumentarfilm (13th), Musikvideos (Formation) u. v. m. Die von Ritzenhoff ausgewählten Produktionen spiegeln somit Entwicklungen im Filmschaffen der letzten 10 Jahre wider, ausgenommen Eve‘s Bayou, der von 1997 stammt.

© Universal Pictures, aus: Queen & Slim

Geschichte im Blick

In ihrer Untersuchung der visuellen Sprache der ausgewählten Filme arbeitet Ritzenhoff entlang einer Fülle von Filmstills, die sie auf ihre erzählerischen Inhalte untersucht. Dabei weiß Ritzenhoff um die Wichtigkeit von Nah- und Weitwinkelaufnahmen wie auch klaustrophobischen Szenerien, Gruppenaufnahmen, Szenenabfolgen und zeigt auf, wie sich Erzählungen gegenseitig ergänzen können. So zieht sie zum Beispiel in Kapitel 6 Parallelen zwischen den Erzähltechniken von Chinonye Chukwus Till und der Mini-Serie Women of the Movement, beide von 2022, die sich um den Lynchmord an Emmett Till im Jahr 1955 drehen. Ähnliches findet sich auch in Kapitel 3, in dem die Wissenschaftlerin historische Ereignisse wie die Selma-nach-Montgomery-Märsche, den Bombenanschlag von Birmingham, ein Treffen zwischen Martin Luther King Jr. und dem damaligen US-Präsidenten Lyndon B. Johnson sowie Auftritte des Alabama-Gouverneurs George Wallace, einem Verfechter der Rassentrennungspolitik, in Ava DuVernays Selma analysiert. Für Leser*innen werden diese historischen Stationen des Civil Rights Movements verständlich aneinandergereiht und in den Fokus gestellt.

© 2019 FOCUS FEATURES LLC. ALL RIGHTS RESERVED, aus: Harriet

Erzählstrategien und Symbole

Während Ritzenhoffs enge Auseinandersetzung mit der narrativen Ebene der von ihr ausgesuchten Filme klar in ihrer Sammlung zu erkennen ist, verfängt sie sich, vielleicht eben gerade aufgrund dieses dichten Fokus auf Handlungsstränge, auch ab und an in inhaltlichen Nacherzählungen. So zeigen sich Analysen und das Herausarbeiten der Bilderwelten in dieser Sammlung immer wieder eher als Entzerrungen von Plotlines statt als Untersuchungen der Gewerkeentscheidungen, Bezüge innerhalb der Filmgeschichte, Formen des Neuschreibens von filmischen Konventionen oder Intertextualität. In der Einleitung aufmerksam betrachtete Pionier*innenarbeiten Schwarzen Filmschaffens oder der Bild- und Medienkunst, deren (neue) Ikonografien sich als Antwort auf einen weißen Überlegenheitsgedanken verstehen, werden in den nachfolgenden Kapiteln nur noch sporadisch erwähnt.

Während Ritzendorff in Matsoukas‘ Musikvideo zu Formation Anklänge an Julie Dash‘ Klassiker Daughters of the Dust erkennt und kurz Erzählstrategien der Weaves und Braids Schwarzer Frauen im Vergleich zu MatsoukasQueen & Slim anreißt, fehlen an anderer Stelle detaillierte Blicke in die Film- und Kunstgeschichte. So blickt Ritzendorff in ihrer Zusammenfassung von DaCostas 2021er Version von Candyman in Kapitel 4 auf die abgebildeten Schattenfiguren der Theatergruppe Manual Cinema als eine Referenz auf die Arbeiten der Scherenschnittkünstlerin Kara Walker. Sie verliert dabei aber die ästhetischen Traditionen der Kunst im frühen Film aus den Augen, z. B. die Filme der Lotte Reiniger, denen Walker selbst angibt, zu folgen. Ähnlich vernachlässigt Ritzenhoff in ihrem Kapitel über Eve’s Bayou in großen Teilen Beobachtungen über Elemente der Southern Gothic, Verknüpfungen zwischen Hexentum und Feminismus und Symbole der Southern Conjure Magic, durch die Lemmons die Community Schwarzer Frauen im Film einfängt.

© The Criterion Collection, aus: Eve’s Bayou

Bilderwelten der Gewerke

An anderen Stellen vernachlässigt Ritzenhoff – sicher auch, um den breiten Umfang der kreativen Leitung der von ihr näher betrachteten Regieleistungen zu unterstreichen – die enge Zusammenarbeit der Gewerke. Die Filmwissenschaftlerin verfällt der Wahrnehmung eines essentialistischen Auteur-Begriffs. Dieser geht dem „Post-Auteurismus“ voraus, den Deb Verhoeven als eine feministische Neuformulierung des klassischen Auteurs versteht, um das Konzept der Autor*innenschaft neu zu betrachten und als kollaborative Leistung hervorzuheben. 

So schreibt Ritzenhoff detailliert über Kamerafahrten und -einstellungen in Candyman, hebt dabei besonders die Einführungsmontage des Horrorfilms gesondert als eine erzählerische Leistung von Regisseurin DaCosta hervor, ohne dabei aber die Rollen (und Namen) von Kameramann John Guleserian oder Editorin Catrin Hedström zu benennen. Letztere verbindet eine langjährige Zusammenarbeit mit DaCosta, darunter auch The Marvels von 2023, der ebenfalls in Von HARRIET zu QUEEN & SLIM untersucht wird. 

Ähnlich verhält es sich auch mit Ritzenhoffs Beobachtungen zu Chukwus Till. Hier berichtet ein gesondertes Unterkapitel („Handlungselemente und Kameraführung in Till“) über die Filmsprache der Kamera im Film, ohne dabei den Kameramann Bobby Bukowski zu erwähnen. Vielmehr formuliert Ritzenhoff mindestens eine Stelle im Buch so unglücklich, dass eine von Bukowski angefertigte Kamerafahrt als tatsächliche handwerkliche Arbeit von Chukwu positioniert wird (S. 263). Auch Namen wie die der Kostümdesignerinnen Karyn Wagner (Eve’s Bayou), Arline Burks Gant (Daughters of the Dust) und Lindsay Pugh (The Marvels) sowie Make-up-Artists wie Pamela Roth und Marietta Carter-Narcisse (Eve’s Bayou) und LaLette Littlejohn (A Wrinkle in Time) bleibt Von HARRIET zu QUEEN & SLIM den Leser*innen schuldig.

© Sony Pictures, aus: One Night in Miami

Vielfältige und vielschichtige Ikonografien 

Auf Seite 41 ihrer 294 Seiten umfassenden Sammlung fragt Ritzenhoff: „Was tragen zeitgenössische Filmemacher:innen und Künstler:innen […] dazu bei, neue Bildkulturen im amerikanischen visuellen Repertoire von Geschichte zu schaffen?“ Dass Auseinandersetzungen dabei vielfältig und vielschichtig sind, ist an der breit gestreuten Filmauswahl der Filmwissenschaftlerin erkennbar. Ritzenhoffs Lesart von Regie als alleinstehendes Merkmal oder Ursprung der neuen Bilderwelten hindert jedoch genauere Untersuchungen zu kollaborativen Leistungen und Intertextualität, durch die eine eigenständige (neue) visuelle Sprache erst herausgearbeitet werden kann.

Durch eine Kollektion von Abschnitten mit gesamten Plot-Nacherzählungen, positiven wie negativen Auswertungen von Qualitätsmerkmalen – die teilweise an Filmkritiken erinnern – und dem Ausklammern von Teamarbeit hinter der Kamera bleibt bis zum Ende hin offen, was Leser*innen unter „Bildkulturen“, „Bilderwelten“ oder „Filmsprache“ verstehen dürfen. Ist eine Kamerafahrt, aufgenommen von einem weißen Kameramann, so vollständig mit der visuellen Sprache einer Schwarzen Regisseurin gleichzusetzen, dass ihre Rollen austauschbar sind? Kann ein Film wie The Marvels, in dessen Postproduktion die Regisseurin nicht mehr voll involviert war und der deutlich von Produzent*innen bestimmt fertiggestellt wurde, überhaupt als „Bilderwelt“ seiner Regie verstanden werden? Können langjährige Kollaborationen zwischen Regie und anderen Gewerken als Bildkultur von nur einer Person betrachtet werden, oder sollten diese auf ihre Dynamiken hin untersucht werden? Dass Ritzenhoff auch Behind-the-Scenes-Material in Form von Bildern und Interviews der Regisseurinnen in ihrem Buch einbindet, um Filme entlang ihrer visuellen Sprache zu analysieren – und somit durchaus Hintergründe zu den Produktionsprozessen ergänzend zu der reinen Abbildung der Filmstills selbst zulässt –, lässt wundern, warum sie Kontext an anderer Stelle nahezu vollständig ausklammert.

© Walt Disney/Marvel Studios/ aus: The Marvels

Am Schluss ist Von HARRIET zu QUEEN & SLIM an Aktualität kaum zu überbieten durch seinen Einblick in das Erzählkino Schwarzer Regisseurinnen der USA und die Frage, wie diese individuell auf Politik und Gesellschaft reagieren. Dennoch lässt Ritzenhoffs Sammlung auch fragend zurück. Vor allem, wenn es darum geht, wer an der Entstehung von Bilderwelten beteiligt ist und wie mit der Fülle an Personen hinter der Kamera und Inhalten wie Symbolen und Rollentypen auf der Leinwand über die reine Analyse der Handlung hinaus umzugehen ist.

Von HARRIET zu QUEEN & SLIM: Afroamerikanische Regisseurinnen und ihre neuen Bilderwelten ist im Mai 2025 im Schüren Verlag erschienen.

 

Sabrina Vetter
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