Joan Baez. I am a noise
Joan Baez. I am a noise von Miri Navasky, Karen O’Connor und Maeve O’Boyle, ist weder klassischer Konzertfilm noch Biopic. Den Rahmen der Dokumentation bildet die Abschiedstournee 2018/19 der Künstlerin, die sie als Anlass nehmen, um auf das Leben der heute 82-jährigen zurückzublicken. Es lassen sich keine aneinandergereihten Interviews von Weggefährt:innnen darin finden, wie in den bis dato erschienen Dokumentationen über Baez’s Leben, darunter „How sweet the sound“ von Mary Wharton aus dem Jahr 2009. Anstatt dessen obliegt es Joan Baez selbst, ihre Lebensgeschichte mit allen Errungenschaften und persönlichen Niederlagen wiederzugeben.
Gleich zu Beginn des Films wird dessen Fokus durch ein Zitat Gabriel Garcia Marquez deutlich, der schreibt: „Jeder hat drei Leben.Das öffentliche, das private und das geheime.“ Mittels Quellen eines Archivs, welches Baez vorher noch nie betreten hatte, dürfen die Zuschauer*innen in ihre damalige Gedankenwelt eintauchen. Von Tagebucheinträgen aus Joans Teenagerzeit über Animationen ihrer Zeichnungen, Audiotapes und Briefen an ihre Eltern und Audiomitschnitten von Therapiesitzungen bis hin zu Home Videos aus ihrer Kindheit ist alles erhalten geblieben, was es den Filmemacher*innen ermöglicht aus einer „Goldgrube“ an Material zu schöpfen. Dadurch entsteht eine faszinierende Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, eine Art visuelles Gedächtnis der Künstlerin. Eine Collage, die die vielschichtigen Bereiche ihres Lebens näher beleuchtet.
Die Zuschauer*innen können miterleben wie Baez per “voice over” als Heranwachsende von Reisen mit ihren Eltern berichtet und bereits früh in ihrem Leben mit unterschiedlichen Lebens- und Einkommensverhältnissen, aber auch Alltagsrassismus konfrontiert wurde. Wie sie stets mit ihrer Identität und gesellschaftlichen Erwartungen haderte. Wie sie in depressiven Phasen ihre Gitarre als Schutzschild zwischen sich und die brachte, die ihr das Gefühl gaben, weniger wert zu sein. Wie sie sich trotz ihres musikalischen Erfolgs nicht davon abhalten ließ sich parallel in zivilgesellschaftlichen Bündnissen zu engagieren, eine Freundschaft zwischen ihr und Martin Luther King entstand und sie dessen March on Washington musikalisch untermalte, sich der Friedensbewegung anschloss und verhaften ließ um Kriegsdienstverweigerer zu schützen und wiederum ihre eigene zivilgesellschaftliche Organisation 1964 mit dem „Institute for the Study of Non Violence“ gründete.
Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass sie nicht von persönlichen Rückschlägen verschont blieb, wenn sie die Trennung von ihrem musikalischen Kollaborateur und Liebhaber/Partner Bob Dylan als „demoralizing“ bezeichnet, den sie zu Beginn dessen Karriere ihrem Publikum vorstellte und bei seinem musikalischen Aufstieg unterstützte oder wenn sie ihre Minderwertigkeitskomplexe schildert, die die „boy‘s clubs“ der Musikszene der späten 60er und 70er bei ihr hervor riefen.
Möglich wird dieses intime Porträt von Joan Baez neben der Vielzahl an verwendetem Material, zudem dadurch, dass mit Karen O’Connor keine Fremde, sondern eine langjährige Freundin von ihr hinter der Kamera stand, der sie (sich) (an)vertrauen konnte. Dabei schaffen es die Filmemacher:innen den Zuschauer:innen nie das Gefühl zu geben Voyeur*innen zu sein, auch dann nicht wenn sie Baez Fragilität aufgrund ihres Kampfs mit Depressionen, Panikattacken, Missbrauchserfahrungen durch den eigenen Vater oder ihre Rivalität mit ihren Schwestern mithilfe ihrer Patient*innenakten und Audioaufnahmen aus Therapiesitzungen offenlegen.
Dieser einfühlsame Film wird diejenigen enttäuschen, die gerne mehr bezüglich der Genese von Alben oder musikalischen sowie politischen Kollaborationen von Baez erfahren hätten. Für die Künstlerin selbst scheint die Produktion der Dokumentation jedoch eine Chance gewesen zu sein sich vom durch die Medien verbreiteten, konstruierten Bild/Etikett/Stereotyp der in sich ruhenden, abgeklärten „Queen of Folk“ und “Protestikone” loszulösen, ihr Innerstes schonungslos mit der Welt zu teilen und wie Baez es selbst bereits als 13-jährige in ihrem Tagebuch festhielt, zu sagen: „I am not a saint, I am a noise.“
Wenn man die eingestreuten Szenen aus der heutigen Zeit betrachtet, die Baez beim Tanzen auf ihrem Grundstück und beim Einsingen während des Soundchecks beobachtet, dann erinnert sie zwar noch stark an die 18-jährige Version ihrer Selbst, die sich bei ihrem ersten Auftritt beim Newport Folk Festival 1959 mit den Worten „I feel like sort of exploding, so I will explode“ ankündigte, doch scheint sie angekommen und Wege gefunden zu haben, in Form von Therapie, ihres Aktivismus und nicht zuletzt ihrer Kunst ihre „inneren Dämonen“ wie sie sie selbst nennt zum Schweigen zu bringen.
Mit I am a noise haben O’Connor, Navasky und O’Boyle eine ungewöhnliche, filmische Bilanz von Joan Baez Leben geschaffen, die an Aktualität nicht vermissen lässt und mehr Menschen den Zugang zu Baez Wirken und Werken erleichtern wird. Indem Baez in ihrer privilegierten Position als Pionierin im Bereich der „Folk Music“ und trotz oder gerade aufgrund ihrer großen Popularität das Risiko eingeht, ihre inneren Konflikte Preis zu geben, setzt sie ihren Weg des Aktivismus fort. Sie versucht anderen Betroffenen Trost zu verschaffen und eine Weggefährtin zu sein, ermutigt sie nicht zu verstummen, sondern mit ihr gemeinsam ihre Stimme(n) zu erheben.
Joan Baez. I am a noise ist ab dem 28.12. in deutschen Kinos zu sehen.
Über die Gast-Löwin:
Michelle Rauschkolb hat einen M.Ed Englisch und Geschichtswissenschaft, organisiert beruflich aber vor allem Wahlkämpfe und Kampagnen. Zuvor war sie ehrenamtlich seit ihrer Jugend als Mitglied der Jusos und Vize-Präsidentin der Young European Socialists aktiv um linke Bündnisarbeit auf internationaler Ebene voranzutreiben. Ansonsten beschäftigt sie sich privat leidenschaftlich gerne mit den musikalischen und gesellschaftlichen Umwälzungen der 60er und 70er Jahre.