FFHH 2023: Warum es Un Amor nicht um Liebe geht

Der folgende Text analysiert die Darstellung sexualisierter Gewalt im Film Un Amor von Isabel Coixet und enthält anschauliche Beschreibungen einzelner Szenen.

Die 30jährige Nat zieht von der Stadt in die spanische Provinz, wo sie nicht nur mit den Herausforderungen des Landlebens, sondern auch mit einer Vielzahl misogyner Strukturen kollidiert. „Und als sie sich auf die sexuellen Avancen ihres Nachbarn Andreas einlässt“, schreibt das Filmfest Hamburg auf seiner Webseite über den Film, „muss sie sich fragen, ob sie wirklich die Art von Frau ist, für die sie sich bisher gehalten hat.“ Diese Zusammenfassung des Plots von Isabel Coixets jüngstem Film hat dasselbe Problem wie der Filmtitel an sich, denn bedauerlicherweise geht es hier weder um sexuelle Avancen noch um Liebe, sondern um sexualisierte Gewalt.

Allein dass in der Ankündigung des Films keine Warnung vor dem sensiblen Inhalt erscheint, zeigt deutlich das Problemfeld auf: Erzählen wie sexualisierte Gewalt nicht eindeutig als solche, eröffnen wir einen Raum für Interpretationen, der nur durch Rape Culture Mythen gefüllt werden kann. Im Fall von Un Amor, der auf einem Roman von Sara Mesa basiert, ist dies besonders perfide, da Isabel Coixet ihren Film mit der extremen Nahaufnahme einer Schwarzen Frau eröffnet, die ihre Geschichte von Flucht und Vergewaltigung erzählt. Dabei bleibt sexualisierte Gewalt als strukturelles Problem eindeutig nicht „dem Anderen“ vorbehalten, sondern zieht sich motivisch auch durch die Lebensrealität der weißen spanischen Protagonistin Nat, die sich an ihrem neuen Lebensort mit verschiedenen Formen von Erniedrigung, Sexualisierung und Bedrohung konfrontiert sieht.

Die Flucht vor jener Gewalt, der sie als Übersetzerin von Interviews mit weiblichen Asylsuchenden täglich indirekt ausgesetzt war, führt erschreckender Weise nur von einer Vergewaltigungskultur in die nächste. Einen sicheren Ort gibt es für Frauen nicht – weder in Afrika, das hier bedauerlicher Weise immer nur als Entität statt als Konglomerat zahlreicher unterschiedlichster Staaten benannt wird, noch in der spanischen Provinz. Und so wirkt Un Amor eine Weile lang tatsächlich so, als wäre der Regisseurin an der Analyse jener Strukturen gelegen, die in einer heterosexuellen patriarchalen Ordnung Männern Macht über Frauen verleihen und sichern. Wozu hierfür die namenlose Schwarze Frau in der wiederholt auftauchenden Interviewsequenz dienen soll, bleibt allerdings schleierhaft. Die Interviewte erleidet einen doppelten Missbrauch: Durch die Vergewaltiger in ihrem Heimatland und durch die spanische Regisseurin, die die Geschichte eines nicht näher benannten afrikanischen Bürger*innenkriegs lediglich als Sprungbrett für das Ermächtigungsdrama einer weißen Frau aus dem globalen Norden benutzt, ohne sich auch nur ansatzweise für die Person of Color zu interessieren, mit der sie immerhin ihren Film eröffnet.

Zwei Personen vor einem Landschaftspanorama. Die größere, breit gebaute, männlich gelesene Person hält das Gesicht der anderen, kleinen und zierlichen, weiblich gelesenen Person in den Händen. Die Nasen der beiden berühren sich, ihre Augen sind geschlossen.

© BTeam Pictures

Das Ermächtigungsdrama von Un Amor erinnert an den Versuch der deutschen Serie Ku’Damm 56, das Empowerment einer Überlebenden von sexualisierter Gewalt durch ihre konsensuelle Liebesbeziehung mit dem Vergewaltiger zu erzählen. Denn bei den „sexuellen Avancen“, von denen das Filmfest Hamburg auf seiner Webseite schreibt, handelt es sich tatsächlich um eine Form des Machtmissbrauchs: Andreas nutzt die Hilflosigkeit Nats aus, wenn er ihr anbietet, im Gegenzug für Sex ihr Dach zu reparieren. Die mittellose junge Frau aus der Stadt steht in ihrem Haus, in dem es von der Decke tropft und das ihr frauenfeindlicher Vermieter sich zu reparieren weigert. Da taucht vor ihrer Tür der auffällig große, dicke und behaarte Nachbar auf und schlägt vor, wenn er nur einmal kurz in sie eindringen dürfe – ja, mit diesen Worten – würde er ihr Heim, ihren Schutzraum wiederherstellen. Wie absurd. Noch absurder aber ist, dass Nat nach anfänglichem Zögern Andreas zuhause aufsucht und sich ihm sichtlich abgestoßen von dem erzwungenen Beischlaf anbietet. Und noch absurderer ist es, dass sie im Anschluss an dieses eindeutig als unangenehm inszenierte Ereignis ein sexuelles und von ihrer Seite schließlich auch amouröses Verhältnis zu ihm eingeht.

Dabei wirken die zierliche Nat und der grobschlächtige Andreas wie eine Arthaus-Version von Die Schöne und das Biest, das als Märchenerzählung des Stockholm-Syndroms wahrlich keine geeignete Inspirationsquelle für einvernehmliche Liebesziehungen darstellt. Zu keinem Zeitpunkt inszeniert Isabel Coixet den Körper der männlichen Hauptfigur als begehrenswert, vielmehr scheint sich Nat in diesem Berg, wie sie ihren Liebhaber zuweilen bezeichnet, zu verlieren – körperlich und seelisch. Die Frage, wie sie über den Missbrauch hinwegsehen und statt Wut Liebe empfinden kann, kommt in Un Amor gar nicht erst auf. Hier entsteht genau jener obig beschriebene Raum, in dem sexualisierte Gewalt als etwas uneindeutiges erscheint, als eine Frage der Perspektive, und nicht als juristischer Tatbestand einer sexuellen Interaktion, mit der eine der beteiligten Personen nicht einverstanden ist. Im Gegenteil erweckt Isabel Coixet mit ihrer Erzählung den Eindruck, Nat hätte hier aus freien Stücken ihr Einverständnis zu einer konsensuellen Handlung gegeben, weshalb auch eine anschließende Liebesbeziehung nur logisch erscheint. Sie übersieht die Machtdynamik zwischen der sozial isolierten jungen Frau in einem ihr fremden Umfeld einer sie überfordernden Lebenssituation und dem in vielfacher Hinsicht überlegenen Andreas. Sie legitimiert den Vorschlag, für einen Nachbarschaftsdienst Sex einzufordern, sie bagatellisiert einen Akt der Gewalt.

Zwei Personen, eine liegt auf der nackten, behaarten Brust der anderen. Die Kamera ist sehr nah und wir sehen nur einen kleinen Ausschnitt: einen Teil der Brust, die Gesichter der beiden Personen zur Hälfte. Die Person, die auf der Schulter bzw. Brust der anderen liegt, wirkt deutlich kleiner und zierlicher.

© BTeam Pictures

Weshalb braucht es diesen überhaupt? Weshalb muss Andreas körperlich so bedrohlich wirken? Weshalb wird sein Körper als abstoßend inszeniert? Weshalb braucht es überhaupt die ausagierte Vergewaltigungsszene, den Blick auf diesen massiven Männerkörper, der die zierliche Frau unter sich begräbt? Was will uns Isabel Coixet damit im Kontext eines Films über Misogynie und Sexismus erzählen? Dass manche Frauen es halt ein bisschen härter wollen? Ist das Coixets ganz persönliche Version von Fifty Shades of Grey? Immerhin spielt konsensuelle Aushandlung hier eine ebenso untergeordnete Rolle wie in E.L. James‘ dreibändiger Romantisierung von Beziehungsgewalt.

Das Finale von Un Amor, in dem Nat vor einem spanischen „Western“-Panorama in eine Modern Dance Performance ausbricht, gibt weitere Rätsel auf. Wovon genau emanzipiert sich Nat mit diesem Befreiungstanz? Hat uns der Film nicht gerade glaubwürdig vermittelt, dass es aus dem System Rape Culture kein Entrinnen gibt? Nats wachsende Obsession mit Andreas wird der Figur ebenso übergestülpt wie ihr finaler Abschied von ihm und der toxischen Dorfgemeinschaft.

Wenn wir sexualisierte Gewalt verantwortungsvoll erzählen wollen, dürfen wir keinen Raum für jene Mythen offen lassen, die sie in unserer Kultur verankern. Sonst ist das Ergebnis weder eine Analyse noch eine Kritik des vorherrschenden Systems, sondern lediglich ein weiteres Rädchen im Rape Culture Getriebe. Wollen wir Un Amor unbedingt etwas Positives abgewinnen, dann vielleicht, dass uns der Film genau das vor Augen führt.

Sophie Charlotte Rieger
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