Das Zimmermädchen Lynn – Kraft in der Ambivalenz
Ein Film so verschlossen wie seine Hauptfigur. Wo sich Das Zimmermädchen Lynn (Vicky Krieps) auf nahezu autistische Weise von ihren Mitmenschen zurückzieht und selbst beim Sex mit ihrem Vorgesetzten gänzlich unbeteiligt wirkt, setzt auch der Film von Ingo Haeb auf Entfremdung. Eine spröde Inszenierung, die durch den nachsynchronisierten Ton besondere Künstlichkeit erhält, schafft eine unüberwindbare Distanz zwischen Zuschauenden und Leinwandgeschehen. Wir sollen uns nicht in Lynn und ihrer Geschichte verlieren, sondern ihr zuschauen. So wie auch Lynn den Menschen zuschaut. Oder besser gesagt zuhört.
Denn es ist das Hören, um dass es in diesem Film eigentlich geht. Lynn liebte alte Filme, aber es reicht ihr, mit geschlossenen Augen ausschließlich der Tonspur zu lauschen. Insofern lässt sie sich selbst dann nur schwer als Voyeuristin bezeichnen, wenn sie beginnt, sich unter den Betten der Hotelgäste zu verstecken, um deren Alltag oder sexuellen Abenteuern beizuwohnen. Auch diese Erlebnisse sind vornehmlich akustischer Natur, von dem kleinen Bildausschnitt zwischen Teppich und Bettkante einmal abgesehen.
Mit dem Zimmermädchen Lynn begegnen wir einer Figur, die verdächtig an Steven Shainbergs Titelheldin im Film Secretary erinnert. Auch Lynn hat einen Klinikaufenthalt hinter sich. Auch Lynn hat Schwierigkeiten mit zwischenmenschlichen Kontakten, so wie die Gesellschaft sie von ihr einfordert. Und auch Lynn entdeckt bei ihren Lauschangriffen die eigene Sexualität, die Lust an Schmerz und Unterwerfung.
Doch hier enden die Gemeinsamkeiten. Das Zimmermädchen Lynn ist keine kinky Romantic Comedy, sondern ein Film, der mühsam sein will, der nicht zu einem beschwingten Fernsehabend mit Popcorn und Bier passt, sondern sein Publikum immer wieder aufs Neue herausfordert. Der Kern jedoch bleibt derselbe: Es geht um die Suche nach Identität, die wie immer auch mit der Suche nach der eigenen Sexualität verbunden ist.
Regisseur Ingo Haeb inszeniert diese Suche mit großer Zärtlichkeit und einem deutlich spürbaren Respekt für seine ungewöhnliche Hauptfigur. Lynn weckt unsere Sympathie, ohne dass wir jemals in der Lage wären, uns in sie einzufühlen. Ohnehin ist der Film zu ambivalent, spielt mit der Vermischung von Traum und Realität und zeigt die Hauptfigur als unzuverlässige Erzählerin ihrer eigenen Geschichte. Doch hinter diesem Spiel mit der audiovisuellen Inszenierung steckt doch sichtbar große Wahrheit.
Es die Begegnung mit der Prostituierten Chiara (Lena Lauzemis), die Lynn vorübergehend verwandelt. Eben noch still und in sich gekehrt, kann sie sich hier in eine spielerische und vor allem fröhliche Interaktion begeben. Die Sexszenen zwischen den beiden Frauen, wenn auch nicht immer ganz glaubwürdig, gehören zu den großen Stärken dieses Films, der die männlichen Figuren spürbar an den Rand versetzt. Zu den zentralen Figuren gehört neben Lynn und Chiara auch die Mutter der ersteren: eine ebenfalls verschlossene, wenn auch stets Kontakt suchende namenlose Frau, verkörpert von Christine Schorn.
„Ich bin nicht der“, sagt Lynn schließlich zu ihrer Mutter. Nicht der Mensch, von dem die Mutter glaubt, ihn vor sich zu haben. Und das muss die junge Frau auch gar nicht sein. Damit gibt Das Zimmermädchen Lynn nicht nur den Raum für eine von vorgegebenen Mustern unabhängige Selbstfindung frei, sondern formuliert auch eine leise Kritik an unserem Krankheitsbegriff. Lynn berichtet, in der Klinik „geheilt“ worden zu sein. Worin ihre vermeintliche Krankheit bestand, können wir nur ahnen. Und wir können uns fragen, ob wir Lynn wirklich nur eine pathologische oder nicht doch lieber durch eine menschliche Brille betrachten wollen.
Das Zimmermädchen Lynn ist gerade auf Grund seiner Ambivalenzen ein beeindruckender Film geworden, weil Ingo Haeb sein Publikum dazu herausfordert und es ihm auch zutraut, die verbleibenden Lücken selbst zu füllen. Und nicht nur das: Das Zimmermädchen Lynn ist in meinen Augen auch ein emanzipatorisch wertvoller Film. Weil die Suche nach (weiblicher) Identität hier weit abseits gängiger Normen und Rollen stattfindet. Weil der Regisseur nie der Versuchung erliegt, die Zuschauer_innen zu einem voyeuristischen Blick auf seine Heldin zu verführen. Und weil der Film weibliche Sexualität als erfüllend und leidenschaftlich charakterisiert, als notwendigen und fundamentalen Bestandteil unserer Identität. Denn genau das ist sie!
Kinostart: 28. Mai 2015
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