Mutter Mutter Kind

Mutter Mutter Kind oder besser gesagt „Mutter Mutter Kinder“ – das ist das Familienmodell von Pedi und Anny, das Regisseurin Annette Ernst über einen Zeitraum von 12 Jahren mit der Kamera begleitet. Neben den Müttern gehören auch Annys Bruder Karsten und seine Lebensgefährtin Tina zur Kernfamilie der zunächst zwei, dann aber drei Kinder des lesbischen Elternpaares. Eine männliche Identifikationsfigur ist Pedi und Anny für ihre drei Söhne wichtig. So halten sie auch weiterhin Kontakt zu Eike, dem Erzeuger der Kinder, der in seinen sporadischen Besuchen zwar offiziell als Vater auftritt, im Grunde aber die Rolle eines entfernten Onkels einnimmt. Und dann erweitert sich durch die Offenlegung eines Familiengeheimnisses die kleine Familie vollkommen unerwartet noch ein weiteres Mal.

Familienportrait von Anny, Linus, Lou, Pino und Pedi

@ jip Films

___STEADY_PAYWALL___ In einer Mischung aus gesetzten Interviewsequenzen und kurz gehaltenen Alltagsszenen erzählt Annette Ernst eine ungewöhnliche Familiengeschichte, lässt Pedi und Anny von ihrer Beziehung, ihrem Kinderwunsch und ihrem Weg zu drei Schwangerschaften berichten. Bei der Geburt des dritten Kindes ist die Kamera bereits dabei. Ab und an unterbricht Ernst ihre Erzählungen mit Archivmaterial, das die Geschichte der Homosexualität in Europa und der Welt oder die Situation gleichgeschlechtlicher Paare in Deutschland beleuchtet. Dabei bleibt die Regisseurin als unsichtbare Gesprächspartnerin stets im Hintergrund. Auch ihre eigene Haltung oder Motivation für diesen Film sind nur zwischen den Zeilen zu erahnen. Stattdessen kommen beispielsweise Politiker:innen zu den Themen Homosexualität und Familie zu Wort und in einer als solche nicht explizit gekennzeichneten Spielszene geht eine anonyme besorgte Mutter in den Dialog mit einem Familientherapeuten.

Es ist dieses letztgenannte Element, das sich nicht nur wegen des fiktiven Charakters so gar nicht in den Rest fügen mag. Eine schwarz-weiße Ästhetik grenzt diese Szenen optisch klar vom Rest des Films ab, doch fehlt eine Bauchbinde zur Erklärung des Settings sowie eine Vorstellung der Figuren und ihrer Funktion. Da die namenlosen Diskutant:innen durchgehend Kritik an der Mutter Mutter Kind Familie üben und im Falle des Therapeuten mit ihrer Professionalität Formulierungen wie „in die Schöpfung eingreifen“ auch Autorität verleihen, entsteht durch den Meta-Dialog hier eine durchaus homofeindliche Position, die im Film keine gleichwertige bejahende Entsprechung findet.

Portrait von Eike, kurzes graues Haar, sanft in die Kamera lächelnd

@ jip Film

Ähnlich verhält es sich mit den Aussagen von Politiker:innen, die Annette Ernst in ihren Film aufnimmt. Sicherlich mit der Absicht, eine homophobe Gesellschaft als Problem oder gar Bedrohung der porträtierten Familie darzustellen, gibt die Filmemacherin vor allem Gegnern des vorgestellten Familienmodells eine Stimme. Warum aber erhalten hier verschiedene AfD-Politiker:innen eine Bühne, während progressive Positionen anderer Parteien unsichtbar bleiben?

Auch innerhalb der Familie gibt es Gegenstimmen. Es ist vor allem Karsten, ausgerechnet das von Anny und Pedi bewusst als männliche Identifikationsfigur etablierte Familienmitglied, das durch hochgradig sexistische und homofeindliche Aussagen negativ auffällt. Allerdings nur den Zuschauer:innen dieses Films, denn Annette Ernst problematisiert diese Aussagen nicht, verzichtet auch darauf, Pedi und Anny mit dieser komplexen Familiendynamik zu konfrontieren.

Portrait von Anny und Pedi. Anny lächelt in die Kamera, Pedi blickt ernst.

@ jip Films

Durch diese Widersprüchlichkeiten und das Übermaß an kritischen Stimmen, bleibt die Mutter Mutter Kind Familie im Zentrum der Geschichte ein Sonderfall, wo es doch eigentlich darum ginge, die Norm in Frage zu stellen und neu zu definieren. Tatsächlich ist es ausgerechnet ein Pfarrer, der von allen außerfamiliären Gesprächspartner:innen die progressivste Position an den Tag legt. Aber wo sind die Expert:innen – ob nun reale oder fiktive Persönlichkeiten – die den heterosexuellen Status Quo infrage und der homosexuellen Familie gegenüberstellen? Die Konzepte wie Männlich- und Weiblichkeit grundsätzlich dekonstruieren, kritische Fragen danach formulieren, ob Frauen automatisch Mütter sind und Männer „von Natur aus“ den Kindern mehr Abenteuer bieten? Wo ist der Diskurs um gleichberechtigte Elternschaft homosexueller Paare, die nicht über den Umweg der Adoption, sondern per Geburtsurkunde Eltern ihrer Kinder sein möchten?

So begrüßenswert auch die Absicht, dem heteronormen Mainstream mit dieser Doku eine Mutter Mutter Kind Familie vorzustellen und für deren Akzeptanz zu werben, so sehr schleicht sich das Gefühl ein, dass hier ein konservatives Publikum lieber nicht mit einer zu queeren Perspektive überfordert werden soll. Ein bisschen sexistisch darf es schon noch sein: „Es ist so, dass Jungs schießen wollen. Das steckt irgendwie in denen…“ Aussagen wie diese beruhigen die heteronorme Masse ebenso wie die gefühlte Ausnahmeerscheinung der Mutter Mutter Kind Familie. Statt den Status Quo grundsätzlich infragezustellen, beschränkt sich Annette Ernst auf das Werben für Toleranz. Das ist gut, aber im Jahr 2022 einfach nicht genug.

Kinostart: 20. Oktober 2022

Sophie Charlotte Rieger
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