Kurzfilmtage 2016: Kunst und Liebe für Kinder und Jugend
Die Berlinale Generation ist mir meist die liebste Sektion des großen Festivals und so überraschte es mich wenig, dass mir der kleine Einblick in die Kinder- und Jugendsektion der Kurzfilmtage Oberhausen von allen Programmen am besten gefiel.
Kunst, Talent und die Frage nach der Definition
In ihrem Dokumentarfilm Sterre stellt Regisseurin Catherine van Campen eine ganz besondere Künstlerin vor und formuliert damit eindringlich die Frage nach der Definition und Deutungshoheit von Kunst und Intelligenz. Sterre, etwa 14 Jahre alt, hat starke Probleme mit der Rechtschreibung und ihrem Gedächtnis. Außerdem quälen sie starke Migräneanfälle. Die Regelschule ist für sie ein Ort der Überforderung und des Stresses, dem sie nicht gewachsen ist. Ihre Hoffnungen liegen daher auf der Bewerbung an einer Kunsthochschule, die auch „Ausnahmetalente“ wie sie aufnimmt.
Sterres bester Freund ist hochintelligent – auf einer anderen Ebene als Sterre, nämlich der gängigen, durch schulische Leistungen charakterisierten. In der Nebeneinanderstellung der beiden Teenager problematisiert van Campen die Definition von Intelligenz und Begabung. Sterre ist auf ihre ganz eigene Weise hochbegabt so wie auch ihre Kunst etwas ganz Besonderes ist, nicht dem entspricht, was Altergenoss_innen in der Regelschule produzieren. Und was würde uns verloren gehen, wenn Menschen wie Sterre durch das Raster fielen und unsichtbar würden, weil ihre immensen Stärken in unserer Gesellschaft keine Wertschätzung erfahren?
Dieselbe Frage werfen Sophie Hexter und Poppy Walker mit The Battle auf, einem Film, der in bedauerlich knappen drei Minuten einen außergewöhnlichen Tänzer portraitiert. Auch Kayah Guenther sprengt die viel zu eng definierten Begriff von Talent und Kunst. Als Mensch mit Trisomie 21 bereitet ihm das Sprechen große Schwierigkeiten, doch mit dem Körper weiß er sich auf eine beeindruckende Weise auszudrücken. Im Gespräch nach der Filmvorführung verriet Kayah, dass er erst mit 14 Jahren zu tanzen begonnen habe und all seine Bewegungen in seinem Inneren entstünden. Sein filmisches Portrait mag er deshalb besonders, weil es seine Stärke zeige – eine Stärke, so glaube ich, die in der Gesellschaft, in der er lebt, viel zu selten anerkannt und bewundert wird.
Sowohl Sterre als auch The Battle fordern uns zu dazu heraus, unseren Kunstbegriff in Frage zu stellen und zeigen eindrucksvoll, was dieser Welt verloren geht, wenn Menschen wie Sterre und Kayah davon ausgeschlossen werden, Kunst und Kultur mit ihrer Leidenschaft mitzugestalten.
Der große schwule Bruder
„Du Schwuchtel!“ – Das ist noch immer eine sehr beliebte und gängige Beschimpfung unter Jungen unterschiedlicher Altersgruppen. Schwuchteln sind schwach, unmännlich und all jenes, was Männer* angeblich nicht sind. Als der 7 jährige Titelheld Filip seinen älteren Bruder beim Knutschen mit einem anderen Jungen beobachtet, stürzen ihn die negativen Assoziationen in Verwirrung. Filip bewundert seinen Bruder, eifert ihm nach, möchte sein wie er. Aber was passiert, wenn sich eine solche Vorbildfigur als „Schwuchtel“ erweist?
Nathalie Álvarez Mesén erzählt diese kleine Geschichte über Pubertät und Homosexualität aus der Beobachterperspektive des kleinen Bruders. Die Kamera bleibt stets bei Filip und legt die Zuschauer_innen damit auf seinen Wissensstand fest. Handkamera und Schauspiel verleihen dem knapp elfminütigen Spielfilm dokumentarische Authentizität. Der Regisseurin geht es nicht um die verbale Verhandlung des Themas Homosexualität, sondern ausschließlich um den Einblick in Filips Erfahrungswelt und Bewältigungsstrategie. Dabei ist die Liebe zwischen den beiden pubertierenden jungen von zärtlicher Selbstverständlichkeit.
Indem Natalie Álvarez Mesén viele Fragen offen lässt und keine einfachen Antworten auf komplexe Fragen liefert, regt sie ihr junges Zielpublikum, aber auch die dazugehörigen Eltern zum Nachdenken und diskutieren an.
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