Kritik: Der Sommer mit Mamã

Um aus der Rolle der Unterdrückten hinauszutreten, braucht es Selbstbewusstsein. Denn nur, wenn wir glauben, Besseres verdient zu haben, können wir auch darum kämpfen, dieses Bessere zu erreichen. Wenn wir aber meinen, in der – wie auch immer gearteten – Benachteiligung unseren verdienten Platz einzunehmen – so unter dem Motto „Ich habe ja nichts Besseres verdient“ – werden wir niemals frei und gleichberechtigt sein.

Und nein, das ist kein feministisches Manifest, sondern die Botschaft des Films Der Sommer mit Mamã von Anna Muylaert. Ich zäume das Pferd also diesmal vom hinten auf und nehme das Fazit gleich vorweg: Der Sommer mit Mamã ist ein wunderschöner und noch dazu emanzipatorisch wertvoller Film über eine Frau, die sich nach Jahren der Unterdrückung in die Freiheit wagt.

In der Filmhandlung geht es jedoch weniger um die Diskriminierung auf Grund von Geschlecht, auch wenn Weiblichkeit und vor allem Mütterlichkeit immer wieder eine eine tragende Rolle spielen. Viel wichtiger ist hier die Kategorisierung der Figuren anhand ihrer Klassenzugehörigkeit, die sich – leider wie so oft – auch in der Hautfarbe ausdrückt. Die Problemfelder auf denen Anna Muylaerts Geschichte spielt, sind also Klasse und Rasse.

© Pandorafilms

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Val (Regina Casé) steht seit vielen Jahren als Haushälterin im Dienst einer wohlhabenden Familie und ist auch dem heranwachsenden Sohn ihrer Arbeitgeber_innen inzwischen eine liebevolle Ersatzmutter geworden. Mit dem eigenen Kind verbindet sie jedoch vornehmlich das Geld, das sie allmonatlich nach Hause schickt. Seit 10 Jahren hat Val ihre Tochter Jéssica (Camila Márdila) nicht mehr gesehen. Als diese nun für eine Aufnahmeprüfung an der Universität in die Stadt kommt, gerät die kleine Welt der demütigen Val gehörig aus den Fugen.

Durch die Augen Jéssicas kann Val mehr und mehr das sehen, was auch wir schon in den ersten Filmminuten erleben: Die Respektlosigkeit ihrer überheblichen Arbeitgeber_innen, die mangelnde Wertschätzung ihrer grenzenlosen Demut und Selbstaufgabe, gespielte Freundlichkeit hinter der sich Herablassung verbirgt. Kurzum: Val ist ein Mensch zweiter Klasse, ohne dass ihr die Ungerechtigkeit dieser Position bewusst wäre. Sie akzeptiert ihre unterlegene Position in einer Gesellschaft, die aus der Klassenzugehörigkeit auch den Wert des einzelnen Menschen abzuleiten scheint.

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Das macht uns als Zuschauer_innen durchaus aggressiv und unsere Wut über die blinde Demut der herzensguten Val spiegelt sich in Jéssicas Aufbegehren gegen die vorherrschenden Strukturen wider. Schnell wird dabei jedoch deutlich, dass in diesem Kampf auch eine gehörige Portion Naivität steckt, sträubt die junge Frau sich doch hartnäckig dagegen, sich in die Gefühle und Sorgen ihrer Mutter einzufühlen. So ist Der Sommer mit Mamã sowohl eine klassische Coming of Age Geschichte über die Adoleszenzkrise von Mutter und Tochter wie auch ein Fingerzeig auf die Zuschauer_innen und ihre voreiligen Urteile.

Regisseurin Anna Muylaert gelingt es, Vals limitierten Handlungsspielraum auch visuell zu transportieren. Die oft statischen Cinemascope-Bilder, lange ungeschnittene Einstellungen, die uns nicht selten heiß ersehnte Gegenschüsse vorenthalten, sowie die durchdachte Architektur ihres Schauplatzes erzeugen ein Gefühl der Beklemmung und Begrenzung. Gleichzeitig sorgen das immens natürliche Schauspiel der Darsteller_innen und die subtile und sensible Situationskomik dafür, dass die Inszenierung nicht artifiziell, sondern authentisch wirkt und die Figuren dem Publikum ans Herz wachsen. So verstreichen die knapp zwei Stunden Laufzeit wie im Fluge. Ja, wir verspüren fast Trennungsschmerz, wenn wir uns von Val und Jéssica verabschieden müssen, so lieb haben wir insbesondere erstere gewonnen.

© Pandorafilms

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Es ist ein magischer Moment, wenn Val schließlich in den Pool steigt und damit bewusst eine Regel bricht. Wenn sie wie ein Kind im Wasser planscht und wir sie erstmalig ausgelassen und mit kindlicher Fröhlichkeit erleben. Doch es geht Anna Muylaert nicht um die Revolution eines bestehenden Systems, nicht um das Zerschlagen von Regeln und Strukturen und die damit einhergehende Läuterung der verblendeten Oberschicht. Dies hat, so scheint Der Sommer mit Mamã zu sagen, keinen Sinn.

Das Ziel ist also nicht, ein ohnehin krankes System zu verändern. Daran würden wir nur unsere Energie verschwenden, verzweifeln, zerbrechen. Das Ziel ist, sich mutig von diesem System und seinen etablierten Strukturen zu lösen und einen Neuanfang zu wagen.

Im Gegensatz zur stets beklemmenden Villa der reichen Oberschicht wirkt Jéssicas spärlich eingerichtete Wohnung am Ende weiträumig und einladend. Dies ist der Ort, an dem Raum für Veränderung ist. Wir müssen uns nur trauen.

Kinostart: 20. August 2015

 

Sophie Charlotte Rieger
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