Jackie – Wer braucht schon eine Mutter?
Voneinander entfremdete Personen, die sich auf einem Road Trip durch die US-amerikanische Einöde näher kommen, stellen wahrlich keine Revolution der klassischen Kinonarration dar. Vielmehr scheint es kaum ein anderes Setting zu geben, in dem sich Protagonist_innen so gerne und so erfolgreich selbst und gegenseitig wieder finden, wie die gradlinigen Asphaltadern der USA. Umso erfrischender gestaltet sich die holländische Produktion Jackie – Wer braucht schon eine Mutter?, die sich zunächst so nahtlos in den Road Movie Kanon einzufügen scheint, nur um den Genrekonventionen schließlich den staubigen Mittelfinger zu zeigen.
Schon die Ausgangssituation ist ungewöhnlich, denn während es sich bei verlorenen Elternteilen in der Regel um Väter handelt, begegnen die Protagonistinnen hier ihrer biologischen Mutter. Als Kinder eines homosexuellen Männer*paares sind die Niederländerinnen Sofie (Carice van Houten) und Daan (Jelka van Houten) ohne weibliche Bezugsperson aufgewachsen. Während die ehrgeizige Sofie diesem Umstand kaum Beachtung schenkt, malt sich die sensible Daan die unbekannte Mutter schon seit Kindheitstagen als eine Art weiblichen Indiana Jones aus. Wie die beiden Frauen* schließlich feststellen müssen, ist die Wahrheit von Daans Kinderträumen gar nicht so weit entfernt. Weil Leihmutter Jackie (Holly Hunter) in Folge eines Unfalls auf familiäre Hilfe angewiesen ist und in ihrer US-amerikanischen Heimat über keinerlei Bezugspersonen verfügt, müssen Sofie und Daan aus Europa anreisen, um die ihnen bis dato vollkommen unbekannte Frau* zu unterstützen. Während der gemeinsamen 500 Meilen langen Fahrt vom Krankenhaus in eine Reha Einrichtung, kommt es nicht nur zu einer Annäherung zwischen der Mutter und ihren Kindern, auch die ungleichen Schwestern rücken nach einer Zeit der Entfremdung wieder näher zusammen.
Jackie – Wer braucht schon eine Mutter? ist ein Film von Frauen* über Frauen*. Dabei war ursprünglich Bill Murray für die Rolle des amerikanischen Elternteils vorgesehen. An vielen Stellen ist diese Idee einer männlichen* Hauptfigur noch spürbar, denn Jackie ist in der Tat eine sehr untypische Frau*, die in ihrer abenteuerlustigen Selbstständigkeit tatsächlich ein wenig an Indiana Jones erinnert. Als dem Dreiergespann mitten in der Wüste von New Mexiko das Benzin ausgeht, ist es Jackie, die trotz Gipsbein ein Lagerfeuer errichtet, das Auto repariert und Klapperschlangen erlegt (und verzehrt). Und wenn sie jemand in die Enge treibt, zögert die zierliche Frau* nicht lange, beherzt zu ihrer Shotgun zu greifen. Auch der Beschützerinnenstinkt, den sie ihren Töchtern gegenüber zunehmend an den Tag legt, erinnert vielmehr an eine klassische Vater- als an eine Mutterfigur.
Es ist interessant, wie Regisseurin Antoinette Beumer und die Drehbuchautorinnen Marnie Blok und Karen van Holst Pellekaan hier traditionelle Familienstrukturen durcheinander würfeln und immer wieder die Frage nach wahrer Mutterschaft aufwerfen. Dabei kommen sie schließlich zu einer sehr unerwarteten Antwort, die den Film gerade noch rechtzeitig davor bewahrt, in gefühlsduseliges Kitschkino abzugleiten. Es ist vor allem die Musik, die dem Film ein Bein zu stellen droht. Dabei wäre es in Anbetracht der großartigen Darstellerinnen gar nicht nötig gewesen, dem Publikum durch den Soundtrack Emotionen zu entlocken. Insbesondere Holly Hunter glänzt mit einem gekonnt körperlichen Schauspiel, das die emotionale Entwicklung ihrer Figur ohne große Worte erfahrbar macht. Das reale Verwandtschaftsverhältnis der Schauspielschwestern van Houten trägt zusätzlich zu einer glaubwürdigen Chemie der Figuren bei.
Sofie, Daan und Jackie wachsen dem Zuschauer umgehend ans Herz. Jede hat ihr eigenes Päckchen zu tragen und lange ist nicht klar, welchen Part die verwirrte Mutter in der Geschichte spielt. Jackie ist ein Mysterium, das weder ihre Töchter noch das Publikum zunächst durchblicken. Hierdurch entsteht in der sonst leider recht vorhersehbaren Geschichte ein funktionaler Spannungsbogen, dessen vollkommen überraschendes Ende für den arg konstruierten Handlungsverlauf entschädigt. Es fällt leicht, Antoinette Beumer kleine dramaturgische Sünden zu verzeihen, denn ihr Film und vor allem ihre Charaktere sind im Ganzen so liebenswert, dass wir gerne über unglaubwürdige Autopannen, Schlangenattacken und Fast-Vergewaltigungen hinwegsehen.
Jackie – Wer braucht schon eine Mutter? ist ein warmherziger Film, dem es schließlich doch noch gelingt, dem narrativen Klischee aus dem Weg zu gehen. Würde es sich um einen amerikanischen Film handeln, wäre die Geschichte von Sofie, Daan und Jackie vollkommen anders ausgegangen und eine pathetische Rede vom allerfeinsten hätte den Tränendrüsen der Zuschauer_innen auch noch den letzten Tropfen abgerungen. Und gerade das macht die Qualität von Beumers Werk aus. An den richtigen Stellen gelingt es ihr, die Erwartungen des Zuschauers zu enttäuschen und ihn so gedanklich herauszufordern, traditionelle Vorstellungen von Familie und Elternschaft in Frage zu stellen.
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