IFFF 2025: Union
In einem Zelt vor dem Amazon Warenlager JKF8 auf Staten Island verteilt eine Gruppe Essen und Flyer. Setz’ Dich hin, nimm’ dir was vom Grill, erzähl’ uns von der Arbeit. Es sieht zunächst nicht danach aus, aber hier findet ein Arbeitskampf statt. Chris Smalls und seine Mitstreiter*innen sind dabei, eine Gewerkschaft für die Mitarbeitenden des Amazon Warenlager ins Leben zu rufen.

© The Film Collaborative
Denn die Arbeitsbedingungen dort sind horrend. Schneller, schneller, schneller abscannenverpackensortieren. Ständige Überwachung, ständiger Druck, wenig Pausen, schlechte Bezahlung, keine Rechte. Wer aufmuckt, wird gefeuert, wer nicht genug leistet, wird gefeuert; überhaupt werden Leute ständig gefeuert. Und zwar so massiv, dass die gesamte Belegschaft alle sechs Monate komplett ausgetauscht wird. Mitarbeitende werden entlassen und dann wieder angestellt, entlassen-angestellt-entlassen. Die Covid-Pandemie wirkt dabei wie ein Druckkessel – das Arbeitsaufkommen und die Belastung steigt, die Schutzmaßnahmen sind mehr als ungenügend. In dieser Situation formiert sich die Amazon Labor Union (ALU) – gegen die geballte finanzielle, politische und juristische Macht des Amazon Konzerns.

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Der Dokumentarfilm Union des Regie-Duos Brett Story und Stephen Maing begleitet die ALU über mehrere Jahre hinweg beim Flyer-Austeilen, beim Barbecue vor dem Warenlager, bei Zoom-Meetings, beim Arbeitskampf von unten. Denn die traditionellen, großen Gewerkschaften wie die Teamster wollen die ALU zunächst weder aufnehmen noch unterstützen. Die Aktivist*innen stehen also nicht nur einer übermächtigen Firma gegenüber, sondern auch einem ganzen System aus unfairen Arbeitsbedingungen, einer Wirtschaft, die Armut und institutionalisierte Ausbeutung forciert.___STEADY_PAYWALL___
Der kleine, im Laufe des Films wechselnde und wachsende Kreis von Aktivist*innen muss zunächst Unterschriften sammeln, von 30% der Belegschaft – was besonders dadurch erschwert wird, dass Mitarbeitende ständig gefeuert werden. Am Ende steht die Abstimmung: Gewerkschaft ja oder nein? Amazon fährt eine große und teure Desinformationskampagne. Die ALU dagegen hat nur wenig Ressourcen.

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Es ist David gegen Goliath, Menschen gegen Unternehmen, Solidarität gegen Gier. Und es ist aufschlussreich, zu sehen, wie der Druck von oben den ALU-Aktivist*innen vor allem zwischenmenschlich zusetzt. Es entstehen Streitigkeiten über Strategien und Ziele. Klassismus, Rassismus und Misogynie machen auch vor der ALU keinen Halt und erschweren immer wieder die Zusammenarbeit – vor allem dann, wenn der Druck sowieso schon hoch ist. Verwunderlich ist das nicht, schließlich sind es gesamtgesellschaftliche, systematische Probleme. Hier zeigt sich eine besonders perfide Konsequenz kapitalistischer Ausbeutung: bestehende Ungleichheiten werden verstärkt. Oft sind es kleine Dinge – die Art, wie geredet wird, der Ton, die impliziten Annahmen. Gleichzeitig sind genau die kleinen Dinge die große Stärke ALU: das Zwischenmenschliche; gemeinsames Essen, Gespräche auf Augenhöhe. Amazon zeigt sich als das, was es ist: seelenlose Profitgier, zersetzend-zynische Taktik.
Brett Story und Stephen Maing erzählen diesen Prozess sehr zurückgenommen. Es gibt keine klassischen Interviews und nur wenige erklärende Zwischentitel. Dieser beobachtende Blick schafft es, die Protagonist*innen weder zu verherrlichen noch auf sie hinabzuschauen.

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Vor dem Hintergrund der systematischen Entrechtung, dem autoritären und faschistischen Weg, den die USA gerade einschlagen, tut es sehr weh, diesen Film zu schauen. Mit jedem Tag, der vergeht, mit jeder schockierenden Nachricht, altert Union um mehrere Jahre. Die USA dieses Films – so ungerecht sie sind – gibt es nicht mehr. Der Optimismus einer neuen Generation Gewerkschaften weicht dem Entsetzen darüber, wie schnell und widerstandslos der Rechtsstaat in den USA abgebaut wird. Jeff Bezos ist ein Teil der trump’schen Broligarchie und des entstehenden Techfeudalismus. Trotz Erfolg der ALU im Film sieht es momentan so aus, als habe Amazon gewonnen.
Doch genau deshalb ist Union so wichtig. Allen, denen – wie mir – das Erstarken autokratischer Strukturen und der Rechtsruck demokratischer Gesellschaften Angst einjagt, die beunruhigt und alarmiert sind, sollten diesen Film sehen. Nehmen wir uns den Entstehungsprozess der ALU und ihre resiliente Solidarität zum Vorbild, organisieren wir uns und kämpfen wir.
Union ist Teil des Programms des IFFF 2025.
- 37. Filmfest Dresden: Der Mehrheitsgesellschaft den Mittelfinger zeigen - 24. April 2025
- IFFF 2025: Union - 6. April 2025
- Drei Gedanken zu: Nosferatu - 6. Januar 2025