Grüne Tomaten Revisited

Im Filmjahr 1991 kamen gleich zwei Filme ins Kino, die solidarische Frauenfreund:innenschaften in den Mittelpunk stellten, die den gesellschaftlichen Umständen trotzen: Thelma & Louise von Ridley Scott und Grüne Tomaten von Jon Avnet. Letzterer kehrt jetzt, über 30 Jahre später, für einen Tag zurück ins Kino – Grund genug, sich die feministischen Motive des Films einmal aus zeitgenössischer wie aus heutiger Perspektive anzuschauen. 

Grüne Tomaten erzählt zwei Geschichten in vier Leben. Die Hauptgeschichte, die zwei Drittel der Laufzeit des Films ausmacht, spielt in den 1930er Jahren zur Zeit der als Great Depression bekannten Wirtschaftskrise in den USA: Idgie Threadgoode (Mary Stuart Masterson) und Ruth (Mary-Louise Parker) leben hier eine zärtliche Freundinnenschaft, die so mancher Herausforderung trotzt. Idgie, deren sprechender Name auch wie das englische „itchy“ (kratzig) gelesen werden kann, ist selbstbewusst, freigeistig und lebensbejahend. Ihr Lebensstil ist für ihre Zeit sehr unkonventionell, wehrt sie sich doch sehr gezielt dagegen, der traditionellen Frauenrolle zu entsprechen: Sie hasst Kleider und spuckt gerne auf den Boden, geht in Bars und spielt dort Karten und trinkt mit den Männern des Ortes; Idgie will unabhängig bleiben sich keiner Autorität unterwerfen, erst recht keinem Ehemann. Dass Idgie aber nicht ausschließlich ein Tomboy ist, sondern gleichzeitig auch mit einigen weiblichen Stereotypen spielt, macht sie zu einer vielschichtigen Figur, die sowohl die Menschen in ihrer Umgebung als auch uns als Zuschauer*innen unsere Geschlechterbilder hinterfragen lässt – für einen Hollywoodfilm vom Anfang der 90er Jahre schon relativ progressiv, für die Handlungsebene in den 30er Jahren erst recht. Selbst aus heutiger Perspektive ist es nicht selbstverständlich. Im Gegensatz dazu ist Ruth eher angepasst und in der Gesellschaft und ihren Konventionen verhaftet: Sie heiratet zunächst einen Mann, der für sie ausgesucht wird, und schafft es erst mit einer durchaus gefährlichen Rettungsaktion ihrer Freundin, aus der Ehe zu fliehen, in der sie Gewalt, Unterdrückung und Machtmissbrauch durch ihren Mann erfahren muss. Mit ihrem Sohn zieht sie zu Idgie und baut mit ihr zusammen das „Whistle Stop Café“ auf, in dem sie versuchen, einen Ort zu erschaffen, an dem sich Gäste und Personal zu Hause fühlen können. Ruth bleibt ihr Leben lang eine eher angepasste, ruhige Person – aber die Freundinnenschaft mit Idgie lebt von tiefer Zuneigung und Solidarität, die beide Frauen gleichermaßen an den Tag legen, wenn es darum geht, die jeweils andere zu verteidigen. 

© Studiocanal

In der Handlungsebene der Gegenwart, Anfang der 1990er Jahre, wird die Geschichte von Idgie und Ruth weitergegeben: Ihre Erzählerin ist Ninny Threadgoode (fantastisch: Jessica Tandy), eine angeheiratete Verwandte von Idgie, die mittlerweile sehr alt ist und nach einem Krankenhausaufenthalt nicht weiß wohin, da ihre Wohnung geräumt wurde. Von Ninny selbst erfahren wir nur wenig – sie hatte einen behinderten Sohn, der ihr Ein und Alles war – aber sie strahlt eine große Zufriedenheit mit ihrem Leben aus. Viel spannender ist aber die Adressatin der Geschichte: Evelyn Couch (Kathy Bates) ist Mitte 40 und gerade sehr unzufrieden mit ihrem Leben. Die Ehe mit ihrem Mann ist eingeschlafen; er braucht sie nur noch zum Führen des Haushalts. Evelyn sucht sich für den Weg aus dieser Krise Unterstützung bei einer nur vermeintlich emanzipatorischen Frauengruppe, die letztlich die patriarchalen Strukturen, in denen Evelyn lebt, noch verstärkt. Ihr fehlen Vorbilder, die ihr zeigen, dass es auch Alternativen dazu gibt, sich als Frau nur um den Ehemann und seine Bedürfnisse bemühen zu müssen. Ninny gibt die Geschichte von Idgie und Ruth an Evelyn weiter, die sie aufnimmt und für sich in Stärke verwandelt: Sie versucht, nicht mehr nur die Rollenerwartungen zu erfüllen, die ihr Mann an sie stellt, sondern beginnt herauszufinden, was ihr selbst wichtig ist; sie übernimmt die Handlungsmacht in ihrem eigenen Leben. Die Geschichte von Idgie und Ruth, die 50 Jahre vorher stattgefunden hatte, konnte die weiblichen Vorbilder für sie liefern, die ihr in ihrem Leben Anfang der 1990er gefehlt hatten.  

Sie alle – Idgie, Ninny, Evelyn und Ruth – weisen die patriarchalen Versuche, sie zu kontrollieren, letztlich zurück. Der Film gibt ihnen Aufgaben und Bedeutungen, die unabhängig von Männern existieren. Und so schafft es Grüne Tomaten, so viele unterschiedliche Identifikationsangebote für seine Zuschauerinnen zu schaffen, wie es sonst nur selten ein Film tut – auch heute, 30 Jahre später. Etwas, das ihm aus heutiger Perspektive aber fehlt, ist ein Identifikationsangebot, das klar macht: Es ist auch möglich, innerhalb einer romantischen, heteronormativen Paarbeziehung zu sein und dennoch ein emanzipatorisches Leben zu leben. Grüne Tomaten stammt aus einer Zeit, als Feminismus noch den Ruf hatte, eine Bewegung gegen Männer zu sein – und an solchen Momenten wirkt es fast so, als sei auch das Oscar-nominierte Drehbuch von Carol Sobieski und Fannie Flagg (auf deren Romanvorlage es beruht) diesem Bild erlegen. „Die Liebe geht, aber deine Freundinnen bleiben“, ruft es aus mancher Szene entgegen. Eine zufriedene Frau in einer Paarbeziehung wäre eine willkommene Modernisierung des Films. 

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Aber Moment: Zwei Personen, die zusammenleben, gemeinsam ein Kind großziehen und sich ein Geschäft aufgebaut haben, das sie selbstständig und nach ihren eigenen Regeln führen. Die sich so schöne Sätze sagen wie: „Ich komme mit dir so sehr zu mir selbst, wie ich es mir nur wünschen kann“, und bei denen eine Person die andere „Bee Charmer“ nennt (was in den Südstaaten eine Slang-Bezeichnung für lesbische Frauen ist). Klingt eigentlich nach einer romantischen Beziehung, oder? Im Hinblick auf die prominente Essensschlacht-Szene im Whistle Stop Café fällt es schwer, die erotischen Spannungen im Raum zwischen Idgie und Ruth zu ignorieren. Aus heutiger Perspektive fällt es leicht, Grüne Tomaten hier Queerbaiting vorzuwerfen – das Andeuten von queerem Begehren, ohne es je explizit zu machen, um gleichzeitig queere Zuschauer:innen an einem Film zu interessieren und konservativen Zuschauer:innen nicht abzuschrecken. Aber wenn eins sich den Film in seinem zeitlichen Kontext anschaut, wird schnell klar: Queerbaiting als Konzept gab es damals noch gar nicht. Wir befinden uns vielmehr in einer Zeit, in der Hollywood-Filme mit queeren Inhalten noch mit der Lupe gesucht werden mussten, geschweige denn, dass sie unter Oscar-nominierten Filmen auffindbar gewesen wären. Um Queerbaiting betreiben zu können, müssen die Filmschaffenden ja zunächst einmal queere Zuschauer:innen als eine Zielgruppe für seinen Film wahrgenommen haben. 

Es erscheint viel wahrscheinlicher, dass hier ganz bewusst queerer Subtext im Drehbuch platziert wurde. Lesen wir Idgie als lesbische und Ruth als bisexuelle Frau, erleben wir im Film ein potenziell romantisches Paar, dem es die gesellschaftlichen Umstände der 1930er nicht ermöglichten, diese Liebe offen zu leben, und das sich diese Liebe darum selbst versagte. Ein ums andere Mal lässt Idgies Blick vermuten, dass nicht möglich ist, was sie sich wünschen würde – und von Ruth Seite ist ein Eid vor Gericht, in dem sie aussagt, dass Idgie ihre beste Freundin sei und sie sie liebe, alles, wozu sie in dem Moment, in diesem Leben fähig ist. Drehbuch-Autorin Fannie Flagg, die selbst offen lesbisch lebte, erlaubt uns als Zuschauer:innen hier, zwischen den Zeilen und Blicken zu lesen. Letztlich ist es vermutlich auch egal, wie die persönliche Antwort auf die Frage nach dem romantischen Charakter der Beziehung zwischen Idgie und Ruth ausfällt – dem emanzipatorischen Charakter ihrer Freundinnenschaft tut keine der beiden Interpretationen einen Abbruch. 

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Aus einer intersektional feministischen Perspektive kann der Film aber nicht nur für seine emanzipatorische Geschichte gelobt werden, sondern muss auch kritisiert werden. Grüne Tomaten spielt in den amerikanischen Südstaaten. Mehrere Schwarze Schauspieler:innen gehören zum erweiterten Cast und Fragen von Rassismus und Segregation werden im Handlungsstrang um Idgie und Ruth verhandelt. Leider geht der Film hier einen Weg, den wir heute als „White Savior Trope“ bezeichnen: Während die „bösen Weißen“ klar rassistisches Verhalten an den Tag legen und sich ein Großteil von ihnen plötzlich bei einem Ku-Klux-Klan-Treffen wiederfindet, werden sie beiden weißen Protagonistinnen sowie mit ihnen assoziierte Figuren als „gute Weiße“ dargestellt. Sie versuchen, Schwarzen Menschen in ihrem Whistlestop Café so viel Gleichheit zu ermöglichen, wie es die Gesetzeslage zulässt: „Ich sehe nicht ein, Menschen anders zu behandeln“, begründet Idgie ihre Einstellung. Das mag oberflächlich als nobler Zug erscheinen, der in unser positives Bild von Idgie und Ruth hineinspielen soll, ist aber letztlich auch nur eine Spielart des „Ich sehe keine Hautfarben“-Rassismus, der die Probleme der Menschen, die von Rassismus betroffen sind, bagatellisiert. In Bezug auf die Geschlechterrollen mag Grüne Tomaten seiner Zeit voraus gewesen sein – in Bezug auf die vereinfachte, selbstvergewissernde Darstellung von Rassismus ist er es nicht. Dass unter den ansonsten so vielfältigen Identifikationsangeboten im Hauptcast keine Schwarze Frau dabei ist, ist nur ein weiteres Zeichen dafür, dass hier intersektionale Mechanismen im Drehbuch keine Rolle spielten.  

Grüne Tomaten ist am Ende ein Film darüber, wie ein emanzipatorisches, nicht-konformistisches Leben in einer heteronormativen und intoleranten Gesellschaft möglich ist. Und auch wenn sich seit 1991 und erst recht seit den 30er Jahren viel getan hat, so können wir dennoch sicher sein: Auch 2022 können wir noch viel von den vier Frauen dieses Films lernen. Dass wir weibliche Vorbilder brauchen, um uns selbst finden zu können, ist auch ein Appell des Films an die Filmbranche an sich – denn irgendjemand muss diese Geschichten zu erzählen, damit wir die Vorbilder kennen. Leider kann eins sich nicht darauf verlassen, dass jede von uns zum richtigen Zeitpunkt ihres Lebens eine Ninny Threadgoode trifft. 

Grüne Tomaten kehrt am 05.04.2022 im Rahmen der „Best of Cinema“-Reihe für einen Tag zurück ins Kino. 

über die Autorin:

Rebecca „Becci“ Görmann studierte Germanistik, Jüdische Studien und Friedens- und Konfliktforschung und arbeitet als Öffentlichkeitsreferentin im Jugendbereich. Sie mag die Wachowskis, Filme, Serien, Fußball, Nerdkram und Gedöns, und am liebsten spricht sie über all das aus einer queerfeministischen, emanzipatorischen Perspektive in etlichen Podcasts. Weil das so viele sind, findet ihr sie am besten vereint auf ihrem Podcaster*innen-Profil. Ansonsten verbringt Becci viel Zeit auf Twitter (@genderbeitrag) oder schreibt für das Blogkollektiv „Feminismus oder Schlägerei“. Normalerweise hört ihr Becci in unserem Podcast “Filmlöwinnen – Alles außer Cat Content”.