FilmlöwinKINO: Rape Culture
ACHTUNG: Der folgende Text enthält Trigger zu sexualisierte Gewalt.
Es gibt wohl kaum einen stärkeren Trigger als den Begriff “Rape Culture”. Einerseits kann er durch die explizite Einbindung des Wortes “rape”, auf deutsch “Vergewaltigung”, Retraumatisierungserfahrungen bei Betroffenen auslösen. Andererseits triggert er auch die Fraktion #notallmen regelmäßig dazu, Kommentarspaltendiskussionen mit ihren unsensiblen und reflexartigen Beiträgen zu fluten. “Vergewaltigungskultur? Hier in Deutschland doch nicht!” – “Der Feminismus und seine ewige Opfermentalität mal wieder …” – “Ich hab noch nie wen vergewaltigt und kenne auch niemanden!”. Und vielleicht stimmt das auch. Vielleicht haben diese Menschen noch nie jemanden vergewaltigt und kennen auch niemanden, der dieses Verbrechen schon mal begangen hat, doch mit allergrößter Sicherheit kennt jede:r wen, der oder die der Meinung ist, dass Vergewaltigungen “manchmal okay” sind. Klingt übertrieben? Laut einer EU-Studie denkt ein Viertel aller EU-Bürger:innen (und ja auch Deutsche), dass sexuelle Handlungen ohne Zustimmung in manchen Fällen gerechtfertigt seien. Jede vierte Person. Und noch schlimmer: Eine andere Studie hat offenbart, dass mindestens jede zehnte Frau in Europa in ihrem Leben einen sexualisierten Übergriff erlebt hat. Keine Vergewaltigungskultur also, Herr Kommentarspalte?
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Doch der Begriff umfasst viel mehr als das. Er umfasst mehr als blanke Zahlen und Statistiken und mehr als sexualisierte Übergriffe, Angriffe und Vergewaltigungen an sich. Rape Culture beschreibt das Klima in einer patriarchalen Gesellschaft, die sexualisierte Gewalt verharmlost und duldet, die Opfern nicht glaubt und sie selbst für den Übergriff verantwortlich macht, die die Länge des Kleides direkt in ein Maß für sexuelle Verfügbarkeit umrechnet und die das juristische Vorgehen gegen Vergewaltigungen abschreckend, retraumatisierend und herbwürdigend gestaltet.
Verankert sind diese Mechanismen in patriarchalen Machtverhältnissen, die den (meist) weiblichen oder weiblich gelesenen Körper unter der Kontrolle eines chauvinistischen Systems halten. Denn in der Rape Culture geht es nicht um Sex, sondern es geht um Macht.
Rape Culture im Film und Filmbusiness
Rape Culture ist – wie der Name schon sagt – in der Gesellschaft und in der Kultur inskribiert. Deswegen dürfte es auch niemanden verwundern, dass sie sich auch im Film und im Filmbusiness manifestiert. Spätestens seit den Enthüllungen um Harvey Weinstein und die darin wurzelnde #MeToo-Bewegung ist klar, dass sexualisierte Gewalt und Einschüchterung in Hollywood und anderen Filmproduktionskontexten ein verbreitetes Phänomen darstellen, unter dem vor allem, aber nicht ausschließlich, Schauspielerinnen und Frauen in der Filmwirtschaft zu leiden haben. Die Harvey Weinsteins der Filmwelt haben sich über Jahre ein System geschaffen, in dem sexualisierte Übergriffe nicht nur an der Tagesordnung stehen, sondern das diese auch konsequent totschweigt. Seit 2016 sind viele Details dieses Systems ans Licht gekommen und diskutiert worden, Harvey Weinstein wurde zu 23 Jahren Haft verurteilt und die Aktivist:innen der #MeToo-Bewegungen wurden zur “Person of the year” des Time-Magazin gewählt. Doch von einem Aufbrechen der Rape Culture in der Filmindustrie kann nicht die Rede sein. Sie ist nach wie vor allgegenwärtig und dem System inhärent, das es nicht schafft die Vergewaltiger angemessen zu bestrafen. Und damit ist nicht nur eine juristische Strafe gemein – nein, es muss auch eine kulturelle Strafe damit einhergehen: Streicht die Menschen, die sexualisierte Gewalt ausüb(t)en, aus dem Kanon und schafft Raum für Filmkunst, die ohne dieses Machtgefälle entsteht!
Doch wie kann diese Filmkunst aussehen, bzw. wie sollte sie gerade nicht aussehen? Die Produkte einer Filmwirtschaft, die sexualisierte Gewalt alltäglich entlang von Hierarchien praktiziert, sind – oh Wunder – auch oft Produkte, die eben diese Gewalt banalisieren, funktionalisieren und ästhetisieren. Vergewaltigung wird im Film oft zu einem Stilmittel für Grausamkeit degradiert. Sie wird dargestellt ohne Kontexte oder die Perspektive der Betroffenen zu berücksichtigen, wie in Clockwork Orange oder Irreversibel. Oder sie wird zu einem billigen Erzählkniff, der Charakterentwicklungen vorantreiben soll, wie in Kill Bill oder Red Sparrow. Im schlimmsten Fall wird sie als Selbstzweck dargestellt, als authentisches, ästhetisches Mittel. Während der Dreharbeiten zu Der letzte Tango in Paris entschlossen sich Regisseur Bernardo Bertolucci und Hauptdarsteller Marlon Brando dazu, eine geplante Vergewaltigungsszene umzukonzeptionalisieren, ohne Hauptdarstellerin Maria Schneider darüber zu informieren. Ihr Ziel war, es Schneider zu überrumpeln, sie zu demütigen, sie die Vergewaltigung ‘wirklich’ fühlen zu lassen. Sie zwangen ihr den Körper von Brando auf eine Weise auf, zu der sie nie zugestimmt hatte, handelten also ohne ihr Einverständnis. Das Aufzwingen von Körperlichkeit ohne Einverständnis einer der beteiligten Personen – das ist Vergewaltigung. Bertolucci und Brando haben Maria Schneider also vergewaltigt, gefilmt und die Szene in einen Film geschnitten, der später für mehrere Oscars nominiert wurde. Weder in Marlon Brandos, noch in Bertoluccis Wikipedia-Artikel wird diese Tat erwähnt. Stattdessen lesen wir über Brandos “vielseitiges gesellschaftspolitisches Engagement” oder Bertoluccis marxistische Einstellung.
Der Kampf um das Narrativ
Können wir einer Filmwirtschaft, die so etwas zulässt und auch noch mit Auszeichnungen und guten Kritiken honoriert, wirklich zutrauen aus Harvey Weinstein und #MeToo gelernt zu haben? Oder sollten wir nicht lieber besonders gut und kritisch hinschauen, wenn es um Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt im Film geht? Rape Culture zwingt uns, uns mit sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen, auch filmisch. Durch ihre Allgegenwärtigkeit wäre es fatal sie aus der größten audiovisuellen Kunst der Gegenwart auszuschließen und die Augen vor einer Realität zu verschließen, die potentiell alle betrifft. Betroffene müssen ihre Geschichten erzählen, ihre Perspektiven visualisieren und ihre Bewältigungsprozesse offenlegen dürfen, wenn sie das Bedürfnis dazu haben. Doch Täter:innen, Mittäter:innen und Menschen, die von den Machtverhältnissen der Rape Culture profitieren, muss die Kontrolle über das Vergewaltigungsnarrativ entrissen werden, denn ihre Werke tragen direkt dazu bei, das gesellschaftliche Klima der Rape Culture aufrechtzuerhalten.
Was wir brauchen sind Filme, die aus der Betroffenenperspektive erzählen. Was wir brauchen sind Filme, die mit den Mythen, um die Vergewaltigung in der dunklen Gasse aufräumen. Was wir brauchen sind Filme, die sensibel und mit Haltung das Thema sexualisierte Gewalt angehen. Und was wir brauchen sind Ausdauer und Kraft, um den Kampf um das Narrativ und die Deutungshoheit auszutragen und zu gewinnen. Mit dem Film Alles ist gut von Eva Trobisch wollen wir euch am 29.10. zum nächsten Termin der Filmreihe FILMLÖWINkino einen Film vorstellen, der sich genau das vornimmt. Im Rahmen der Veranstaltung kommt außerdem Dr. Mithu Sanyal zu Wort, die mit ihrem Buch Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens eine überzeugende Analyse über den Umgang mit Vergewaltigung in unserer Gesellschaft veröffentlicht hat und als Expertin unseren Blick und unsere Waffen im Kampf um das Narrativ schärfen kann.
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Die Narrative der Betroffenen bestätigen in vielen Fällen die von Vergewaltigern erwünschten Wirkungen, was soll das helfen. Wenn gezeigt wird, wie Opfer allein gelassen werden, keine Chance haben, sich zu rächen (ja, rächen), keine Macht erlangen können, einfach nur lernen können, mit der Erinnerung zu leben, das wars. Ich denke, wir brauchen eher Heldinnengeschichten, unrealistisch oder nicht, Frauen, die sich gewehrt haben, sich gerächt haben, nicht hilflos waren, was soll dieser allgemeine Move im Feminismus, sich auf den Rücken zu rollen, seine Wehrlosigkeit auszustellen und dann zu behaupten, das wär ein Zeichen der Stärke? Das ist es nicht. Maßlose Selbstüberschätzung ist eine Stärke, das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich zu wehren, ob berechtigt oder nicht. Ohne dieses Vertrauen braucht man gar nicht erst anfangen zu kämpfen.
Hallo Edna,
ich finde, es sollte beides geben. Natürlich können Heldinnengeschichten und Rachephantasien a la den klassischen Rape and Revenge-Filmen empowernd sein. Doch, was die Betroffenheitsnarrative angeht, geh ich nicht mit dir, das klingt mir zu sehr nach dem Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses, also dem Gedanken, dass Verhältnisse sind wie sie sind und deswegen so sein sollten. Filme die die Realität abbilden, die die Leiden und Traumata von Betroffenen sexualisierter Gewalt thematisieren können vielfältig inszeniert sein; kritisch, nüchtern, realistisch oder kämpferisch. Dass damit die Verhältnisse innerhalb der Rape Culture stabilisiert werden, halte ich für ein vorschnelles und zu allgemeines Urteil.
Mit lieben Grüßen
Sophie
Liebe Sophie, im Text oben schreibst du, Marlon Brando hätte Maria Schrader vergewaltigt. Korrigiere das doch mal bei Gelegenheit. Viele Grüße