Berlinale 2023: El Eco

Das mexikanische Dorf El Eco liegt auf etwa 3000 Höhenmetern um die 140 km nordöstlich von Mexico City und ist mit seinen ungefähr 100 Einwohner:innen so klein, dass es bei Google Maps nicht zu finden ist. Weit abseits des technologisierten Lebens, bestimmt hier die Natur das Leben der Menschen – das Wetter, die Ernte, das Vieh. Filmemacherin Tatiana Huezo portraitiert dieses Leben über einen unbestimmten Zeitraum hinweg aus der Perspektive der Kinder des Dorfes und widmet sich dabei vor allem der Geschichte dreier Mädchen beziehungsweise junger Frauen. Sie leisten Care- und Lohnarbeit, gehen zur Schule, träumen von der Zukunft und kollidieren dabei zuweilen mit den begrenzten Möglichkeit ihrer dörflichen Realität.

El Eco wirkt auf den ersten Blick wie eine Beobachtung. Ohne Voice Over, Titeleinblendungen oder irgendeine Form der Rahmung oder Erklärung sind die Zuschauer:innen ganz den eindrucksvollen Bildern von Ernesto Pardo überlassen. Die Poesie wie auch die Intimität dieser Aufnahmen ist atemberaubend, hypnotisch, zieht das Publikum mitten hinein in die abgeschiedene Welt des mexikanischen Hochlands. Doch ist die Kamera hier wirklich nur ein Fenster, durch das wir das Leben von Montse, Luz Ma und Sarahí beobachten?

Eine junge Frau in warmer Jacke läuft mit einem Pferd, das sie am Halfter hält, durch eine neblige Landschaft. Stellenweise liegt Schnee.

© Radiola Films

Der deutsche Begriff der Bildgestaltung verweist darauf, das eine Kamera niemals nur abbildet, sondern durch die Auswahl von Ausschnitt, Winkel und Bewegung eine andere, eine fiktive Welt erschafft. Auch im Dokumentarfilm. El Eco zeigt eindrücklich, wie Regie, Kameraarbeit und Montage aus Fragmenten des Alltags eine Geschichte konstruieren, die mit der Realität abzugleichen ebenso unmöglich wie unnötig ist. Tatiana Huezo will etwas vom Leben dieser Kinder und ihrer Welt erzählen, die für die Filmemacherin selbst eine fremde ist. Es ist insbesondere die Beziehung zur Natur, die Huezo hier interessiert – ein Interesse, das sich in atemberaubenden Panoramen und berauschenden Nahaufnahmen von Pflanzen und insbesondere Tieren ausdrückt.

Spätestens wenn die Mutterstute ihr Fohlen im Morgennebel stillt, schleicht sich aber doch der Eindruck einer Romantisierung der Szenerie ein. Auch in den Momenten, in denen sich die Beziehung der Kinder zur Natur in der Nähe zum Übergang von Leben und Tod widerspiegelt, sucht El Eco die Schönheit in Momenten der Tragik. Es ließe sich argumentieren, dass Tatiana Huezo auf eine Dramatisierung der Ereignisse und kalkulierte Rührung ihres Publikums verzichtet. Es ließe sich über ihre Inszenierung aber ebenso sagen, dass sie selbst Momente von Tod und Hungersnot noch romantisch verklärt. Auch das Sounddesign von Lena Esquenazi evoziert eine Stimmung mythischen Zaubers, der von einer tiefen Kluft zwischen Inszenierenden und Inszenierten zeugt.

Handwerklich ist El Eco ein beeindruckender Film, dem es ohne Spannungsdramaturgie und nur durch die Kraft seiner Bilder gelingt, das Kino-Publikum in den Alltag eines abgelegenen mexikanischen Dorfes aufzusaugen und nach dem Abspann mit Gänsehaut wieder in den Kinosaal zurückzuwerfen. Inhaltlich und mit einem Abstand betrachtet, der in Anbetracht dieses betörenden Filmerlebnisses schwer einzunehmen ist, schleicht sich aber der Eindruck von Exotisierung ein.  

Die in El Salvador geborene Tatiana Huezo hat in Mexiko-Stadt und Barcelona studiert. Die Welt von El Eco ist ihr ähnlich fremd wie ihrem Filmfestivalpublikum. Die Poesie, die sie im herausfordernden Leben der Protagonist:innen findet, ist allein ihre und hat wenig bis vermutlich gar nichts mit dem Selbstverständnis der portraitierten Menschen zu tun. Vor diesem Hintergrund wirken gerade die Szenen großer Intimität, wie das Bad der alternden Großmutter, die von ihren Enkelinnen mit größer Zärtlichkeit gewaschen wird, mehr grenzüberschreitend als poetisch. 

So schön das auch anzusehen ist, so niedlich die Kinder, so beeindruckend die Natur, so herrlich friedlich das einfache Leben ohne Technik (und fließend Wasser), so viel erzählt diese Schönheit doch über uns und so wenig über ein kleines, kleines Dorf nordöstlich von Mexiko-Stadt namens El Eco.

Vorführungen bei der Berlinale 2023

Sophie Charlotte Rieger
Letzte Artikel von Sophie Charlotte Rieger (Alle anzeigen)