Annette und Gewalt gegen Frauen

Sollen wir anfangen? Sollen wir wirklich? Sollen wir wirklich eintauchen in dieses pompöse Universum musikalischer Augenwischerei, dessen Verzahnungen zwischen Romantik, Satire, vermeintlicher Kritik, Tod und toxischer Maskulinität eine Wucht erzeugen, die so ornamental ist, dass eins sie erst unbeschadet überstehen muss, um sehen zu können, was dahinter liegt: Misogynie? Mit Annette hat der französische, als filmischer Poet gefeierte, Regisseur Leos Carax ohne Frage ein aphrodisierendes und innovatives Werk geschaffen ‒ einen Film, an den wahrscheinlich so schnell nichts mehr erinnern wird. Und das ist ein Problem, denn in diesem überbordenden Kitsch, in dieser Liebeserklärung für filmische Formen, deren intelligente Selbstreferentialität zum Verzücken einlädt, droht unterzugehen, dass der Film misogyne Dynamiken in Beziehungen und im Show-Business nicht nur thematisiert, sondern auch reproduziert.

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© Kinology

Annette ist ein prominent besetztes Musical und handelt von der Beziehung des umstrittenen Stand Up-Comedians Henry McHenry (Adam Driver) und der Opernsängerin Ann (Marion Cotillard). Während er das Publikum beleidigend Shows abzieht, die die sogenannten Grenzen des guten Geschmacks streifen, verzaubert sie mit ihrer Stimme die Fans der altmodischen Hochkultur. Es ist eine intensive Beziehung, von öffentlichen Interesse und mit tragischem Ausgang. Nachdem Ann die gemeinsame Tochter Annette bekommt, werden Vorwürfe wegen sexualisierter Übergriffigkeit gegen Henry laut. Seine Karriere gerät ins Wanken und Ann sieht sich in der unangenehmen Situation gefangen, ihrem Mann Beistand leisten zu müssen, während dieser sich mehr und mehr dem Alkohol, der Aggressivität und den Ausschweifungen auf der Bühne hingibt. Während der gemeinsamen Reise auf der Privatyacht kommt es zum schrecklichen Höhepunkt: Betrunken und rücksichtslos wirbelt Henry Ann während eines nicht konsensualen Tanzes ins stürmische Meer und sie ertrinkt. Um sich der Strafe zu entziehen, versichert Henry den Behörden glaubhaft, seine fahrlässige Tötung sei ein tragischer Unfall gewesen. Fortan ist Henry alleinerziehender Vater von Annette, die wie durch ein Wunder beginnt, mit der Stimme ihrer Mutter zu singen. Motiviert vom Geld und dem Gedanken, sich in der Öffentlichkeit zu rehabilitieren, zerrt Henry Annette ins Showgeschäft und vermarktet sie als singendes Wunderkind. 

Henry und Ann werden in Annette schon früh mit ihren Schicksalen gekennzeichnet. “I killed them. Destroyed them. Murdered them.”, entgegnet Henry auf die Frage, wie sein letzter Auftritt lief, während er noch im gleichen Dialog Ann attestiert: “Well, you die so magnificently. Honey, you’re always dying”. Er ist der Mörder ‒ sie ist die Getötete. Das ist eine unmissverständliche Rollenverteilung, wie sie klassischer im Liebesdrama nicht sein könnte. Wenn die Amour Fou tödlich ausgeht, dann meistens für die Frauen, denn ihr Tod bedeutet umso mehr in einer Kultur, in der die Vorstellungen von Stärke und Schutzbedürftigkeit so fest verankert sind in der traditionellen, binären Geschlechterordnung. Anns Tod ist unausweichlich, er ist angelegt für die im höchsten Maße überästhesierte Geschichte von Henry McHenry, der als Frauenmörder hier im Zentrum steht. 

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In der neuesten Studie der malisa Stiftung zur Darstellung von Gewalt gegen Frauen im deutschen Fernsehen wird unter anderem als Ergebnis formuliert, dass die von Gewalt Betroffenen in den seltensten Fällen selbst zu Wort kommen. Es ist ein strukturelles Problem im Film und Fernsehen, dass die Darstellung von Gewalt gegen Frauen, vor allem Partnerschaftsgewalt, Regeln befolgt die unangemessen für die Dimension sind, in der Gewalt gegen Frauen und Femizid in der Realität auftritt. Das gilt für die deutsche Fernsehlandschaft, ebenso wie für Annette. Inkonsequent wird Ann nach ihrem Tod als geisterhafte Erscheinung und in der Stimme ihrer Tochter wiedergeboren ‒ ein nicht ausformuliertes Rachemotiv schwebt fortan über der Handlung, mündet allerdings im Nichts. Auch von den Vorwürfen sexualisierter Übergriffigkeit ist danach nie wieder zu hören. Wie so oft im Film bleibt die Tötung an Ann nichts mehr als ein tragischer Twist. Die Leerstelle, die sie im Film hinterlässt wird gefüllt durch den destruktiven Konflikt zwischen Henry und Anns ehemaligen Verehrer und Kollegen (Simon Helberg). Selbst nach ihrem Tod fechten die beiden die Besitzansprüche auf Ann aus ‒ auf dem Rücken von Annette

Lässt sich diese Inszenierung als Kritik oder Fingerzeig auf toxische Männer im Showbusiness lesen? Zwischen den musikalischen Einlagen, den erbaulichen Songs der Band Sparks, der plumpen Symbolik, die der hölzernen Puppe inneliegt, die Annette darstellt und der fast schon obsessiven Fokussierung auf Henry McHenrys Gefühlswelt lässt Leos Carax die vielleicht sogar intendierte Kritik im Nichts verschwinden. Auf die Idee zu kommen, dieses Drama um Partnerschaftsgewalt, Femizid und emotionale Ausbeutung als kitischige Musical-Schmonzette zu tarnen ist nicht geistreich oder zeugt von künstlerischem Genius. Es ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass sich die Darstellung von Gewalt gegen Frauen im Film als funktionales, dramaturgisches Mittel und ausschlachtbare Idee für Geschichten rund um gewalttätige Männer festgesetzt hat.

Annette läuft seit dem 16.12. in deutschen Kinos.

 

Sophie Brakemeier