Wie viele Harvey Weinsteins braucht es eigentlich noch?

Nur für den Fall, dass diese Ereignisse außerhalb Eurer Filterblase stattgefunden haben: In den letzten Tagen meldeten sich zahlreiche Schauspielerinnen zu Wort, die von dem US-amerikanischen Produzenten Harvey Weinstein zu unterschiedlichem Grat sexuell belästigt wurden. Daraus folgten natürlich neben einem allgemeinen Aufschrei auch verschiedene Diskussionen. Wie es derart viele dieser Fälle geben kann, ohne dass bislang etwas dagegen unternommen worden wäre. Weshalb die männlichen* Kollegen nicht eingeschritten seien, ob es tatsächlich möglich sei, dass sie nichts gewusst hätten. Und natürlich auch: Wie viele dieser Fälle gibt es in der Filmbranche? Und abseits von ihr? Der Hashtag #metoo, mit dem Frauen* in den sozialen Medien jetzt anzeigen, dass auch sie sexuelle Belästigung oder sexualisierte Gewalt erlebt haben, spricht für eine ziemlich erschreckende Dunkelziffer. Oder wie Christian Gesellmann es in seinem Artikel im Zeit-Magazin sagte: „Statistisch gesehen kennt jeder mehrere Frauen, die sexuell belästigt oder missbraucht worden sind. Statistisch gesehen kennt also jeder auch Männer, die belästigt und missbraucht haben.“

Anbei: Ich mag den Ausdruck „sexuell belästigt“ aus denselben Gründen nicht, die mich auch davon abhalten, Vergewaltigung mit „sexuelle Gewalt“ zu beschreiben. Bei keiner dieser Situationen nämlich geht es um Sex. Es geht um Macht und Gewalt, die ausschließlich für die Ausübenden eine sexuelle Konnotation besitzen kann, es oft aber nicht einmal tut. Wir sollten für diese Taten und Situationen dringend andere Worte finden, um Rape Culture Mythen auch sprachlich zu dekonstruieren, aber bis wir da zu einem Konsens gekommen sind, möchte ich im Folgenden mit dem Begriff „sexualisierter Gewalt“ alles von der ungefragten anzüglichen Bemerkung am Arbeitsplatz bis zur penetrativen Vergewaltigung umfassen. Erstens fällt es mir schwer eine klare definitorische Trennlinie zwischen den multiplen Formen des Phänomens zu ziehen. Zweitens ist jede dieser Situationen Ausdruck desselben strukturellen Problems. Und drittens sind diese Ereignisse in meinen Augen alle eine Variante von Gewalt. „Als Gewalt (von althochdeutsch waltan „stark sein, beherrschen“) werden Handlungen, Vorgänge und soziale Zusammenhänge bezeichnet, in denen oder durch die auf Menschen, Tiere oder Gegenstände beeinflussend, verändernd oder schädigend eingewirkt wird“, so die Definition von Wikipedia. Das trifft in meinen Augen auf all diese Situationen zu. Aber das nur als kleiner einleitender Exkurs.

Was feministische Filmkritik mit Harvey Weinstein zu tun hat

Ich habe lange gezögert, einen Artikel zu Harvey Weinstein und dem darauf aufbauenden Diskurs zu schreiben. Unter anderem weil ich dachte, ich hätte zum Thema sexualisierte Gewalt schon genug gesagt. Ich möchte mich nicht auf penetrante Art und Weise wiederholen und immer dasselbe erzählen. Aber vielleicht funktioniert es eben auch nur auf diese Weise, nach dem Motto „Steter Tropfen höhlt den Stein“. Wen’s interessiert: Ich habe mich bereits über die inflationäre Darstellung von (sexualisierter) Gewalt gegen Frauen im Deutschen Fernsehen echauffiert, eindringlich auf den Zusammenhang zwischen dem statistisch belegten Ausmaß sexualisierter Gewalt in Europa und ihrer Darstellung in den Medien hingewiesen, ich habe mich mit Regisseurin Julia C. Kaiser intensiv darüber unterhalten, wie und ob sexualisierte Gewalt auf der Leinwand dargestellt werden soll und kann, ich habe Sexismus im Filmjournalismus problematisiert – nicht nur, weil mir Kollegen auf respektlose Art und Weise wegen meiner feministischen Arbeit ans Bein pissen, sondern auch weil ich mit einem Kollegen eine eigene „Weinstein-Erfahrung“ gemacht habe. Dem ist wenig hinzuzufügen, aber vielleicht muss es einfach noch einmal gesagt werden!

Vor kurzem bin ich bei YouTube zufällig auf den Kanal Pop Culture Detective gestoßen, der unter anderem Filme und Serien feministisch analysiert und dabei Tropen aufdeckt wie „The Adorkable Misogyny of The Big Bang Theory“ oder „Predatory Romance in Harrison Ford Movies“. Vergleichbares suche ich im deutschsprachigen Raum vergebens, denn feministische Filmkritik erfährt hierzulande keine besondere Achtung. Sie führt ein, zuweilen gar belächeltes, Nischendasein.

Was all das mit Harvey Weinstein zu tun hat? Wie ich finde, eine ganze Menge. Das oben erwähnte YouTube Video zu „Predatory Romance“ zeigt eindrucksvoll, wie populäre Abenteuer- und Science Fiction Filme Formen von sexualisierter Gewalt nicht nur legitimieren, sondern gar romantisieren. Ich werde nicht müde zu betonen – steter Tropfen und so – dass Film Gesellschaft nicht nur widergespiegelt, sondern auch beeinflusst, also Strukturen in Frage stellt oder sie festigt. Die Art und Weise wie wir mit Geschlechterrollen im Allgemeinen und sexualisierter Gewalt im Besonderen in Film und Fernsehen umgehen, hat also auch einen direkten Einfluss darauf, wie wir es im täglichen Leben tun. Wenn es im Film vollkommen in Ordnung ist, über das „nein“ einer Frau* hinwegzugehen, weil sie es ja angeblich irgendwie auch will, dann wird dieses Verhalten wahrscheinlich auch im Leben abseits der Leinwand ohne großen Widerspruch geduldet. Es braucht also Menschen, Filmkritiker_innen, die auf diese Muster in unseren audiovisuellen Narrativen aufmerksam machen. Damit entsteht ein Diskurs, der nicht nur zu einem sensibleren Umgang mit Inhalten in Film und Fernsehen, sondern auch einem respektvolleren alltäglichen Miteinander führen kann.

Zeit zu Reden – Es sind nicht immer nur die Anderen!

Die Berichterstattung über den Harvey Weinstein Fall, der – und das ist wichtig! – kein Einzel-, sondern ein Beispielfall ist, gestaltet sich hier in Deutschland recht einseitig. Es gibt zahlreiche weitgehend neutrale Artikel, die den Verlauf der Ereignisse in deutscher Sprache abbilden. Und dann gibt es aufmerksame Feminist_innen, die die Gunst der Stunde nutzen, um einmal mehr auf die Allgegenwart sexualisierter Gewalt hinzuweisen. Extrem selten aber sind Stimmen aus der Branche selbst. Der Text der Schauspielerin Belinde Ruth Stieve über ihre Erfahrungen an deutschen Filmsets, der die Perspektive auf „die da drüben auf der anderen Seite des Ozeans“ einmal umdreht und auf uns selbst richtet, ist zumindest in meiner Filterblase bislang einzigartig. Auf Seiten der Filmkritik hat sich Sonja Hartl zu Wort gemeldet. Sie nutzt die Ereignisse um Harvey Weinstein für einen kritischen Artikel zum Thema Deutungshoheit in der deutschen Filmkritik, indem es ihr auch um Respekt für ihre feministische Perspektive geht: „(…) alleine, dass ich gefragt werde, wie ich als Feministin dieses oder jenes gut finden könnte, oder immer wieder versucht wird, Kritik an einem Werk darauf zurückzuführen, dass ich eine Frau bin, zeigt, dass ich nicht als gleichberechtigt angesehen werde.“ Mehr selbstkritische Stimmen aus der deutschen Film- und Fernsehbranche habe ich bislang noch nicht vernommen.

Der aktuelle Aufruhr hat für mich auch etwas Verlogenes. Niemand sollte überrascht sein, wie viele Frauen* sexualisierte Gewalt erlebt haben oder sich von Männern* bedrängt fühlen. Das hat uns doch schon #aufschrei eindrücklich gezeigt. Und statt der großen Betroffenheit sollte vor allem Aktionismus entstehen, der jene Strukturen zu zerschlagen sucht, die eine Allgegenwart sexualisierter Gewalt erst ermöglichen, also das was im englischsprachigen Raum „Rape Culture“, Vergewaltigungskultur, genannt wird. Und dieser Aktionismus sollte auch in der Film- und Fernsehbranche, in der Produktion wie in der Kritik, stattfinden. Denn mediale Inhalte sind ein Teil dieser „Rape Culture“!

Ich bin so müde davon, es ständig zu wiederholen. Deshalb meine große Bitte: Können wir das endlich als Fakt anerkennen und damit beginnen, Gegenmaßnahmen einzuleiten? Ich habe keine Lust mehr, mir objektifizierte und sexualisierte Frauen*figuren anzusehen, deren Grenzen permanent missachtet und überschritten werden. Es ist doch kein Wunder, dass bei der Flut dieser Bilder im zeitgenössischen Kino sexualisierte Gewalt auch auf gesellschaftlicher Ebene als Teil der Normalität angenommen wird. Es ist kein Wunder, wie schwer das Konzept von „consent“ durchzusetzen ist, wenn vermeintlich moralisch integre Heldenfiguren immer noch großzügig über das „nein“ ihres weiblichen* Gegenübers hinweggehen. Es ist kein Wunder, dass Frauen* aus Angst vor Stigma und fehlender Hilfeleistung nicht von ihren Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt berichten, wenn es noch immer zahllose Narrative über Falschaussagen gibt. Und es ist sowieso überhaupt kein Wunder, dass es allgemein an Respekt für Frauen*, ihre Lebenswelt und geschlechtsspezifischen Herausforderungen in einer patriarchalen Gesellschaft fehlt, wenn weibliche* Figuren in unseren täglichen (!) Narrativen noch mehrheitlich als sexy Dekorationsobjekt nicht aber als menschliche und respekteinflößende Charaktere dienen.

Wie viele Harvey Weinsteins braucht es noch, damit wir endlich anfangen darüber zu reden???!!!!

Sophie Charlotte Rieger
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