Nymphomaniac 1 und die unsichtbare Vulva

Nymphomaniac, die sexuell explizit verfilmte Lebensgeschichte einer von Charlotte Gainsbourgh verkörperten Nymphomanin, präsentierte sich schon im Entstehungsprozess fleißig als filmischer Skandal des Jahrhunderts. Oder anders formuliert: Die berichterstattende Presse schnappte nur zu bereitwillig nach dem Knochen, den ihr Lars von Trier vorwarf. Achtung, Achtung: Wir werden echten Sex von echten Menschen mit echten Genitalien sehen! Einen ersten Dämpfer erfuhr das auf Skandal getrimmte Publikum schon durch die Nachricht, dass statt der prominenten Hauptdarsteller_innen Kolleg_innen aus dem Pornobusiness die Kopulation für die Kamera übernähmen und das Allerheiligste der großen Stars in den „authentischen“ Sexszenen durch Genitalprothesen geschützt würde. Interessant blieb das Projekt dennoch; in meinen Augen jedoch weniger auf Grund der viel diskutierten „pornographischen“ Elemente, sondern wegen des außergewöhnlichen Vorhabens, die weibliche Sexualentwicklung einer Nymphomanin von der Kindheit bis ins mittlere Alter zu veranschaulichen. Während ich mir ein abschließendes Fazit über das Gelingen dieser Mission erst nach der Sichtung des zweiten Teils erlauben darf, drängt sich mir, basierend auf der bei der Berlinale präsentierten Langfassung von Nymphomaniac 1, bereits eine kritische Beobachtung auf: die auffällige Abwesenheit der Vulva.

© Senator

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Der Kampf gegen die möseale Bedrohung

Zwei Filme hatten im Vorfeld meinen Blick für dieses Detail geschärft. Zum einen die Dokumentation Vulva 3.0 von Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann, die dieses Jahr in der Panorama-Sektion zu bewundern war, und zum anderen die US-amerikanische Satire Teeth, einst ebenfalls bei der Berlinale vorgestellt. Die junge Protagonistin des letztgenannten Films wächst in einer Gesellschaft sexueller Unterdrückung auf, ist selbst Teil einer typischen US-amerikanischen Keuschheitsbewegung und mit dem Erwachen ihrer erotischen Gefühle überfordert, da sich ihre Muschi als äußerst bissig erweist. Die Vagina Dentata ist hier in meinen Augen eine Metapher für die als Bedrohung empfundene Sexualität der Frau. Dahinter steht, so glaube ich, dieselbe Angst, die die Menschheit befiel, als Frauen in die Arbeitswelt und Politik eintraten. Die durch das Patriarchat aufrecht erhaltene Stabilität der heteronormen Gesellschaftsordnung gerät durch Entwicklungen dieser Art gefährlich ins Wanken. Die Folgen der weiblichen Selbstbehauptung, ob nun beruflich, politisch oder sexuell, sind Chaos und Anarchie, Mord und Totschlag und schließlich der Untergang der Zivilisation.

Ein Weg, der mösealen Bedrohung Herr zu werden, um diese gesellschaftliche Apokalypse zu vermeiden, ist ihre Unsichtbarmachung. „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“ und das im wahrsten Sinne des Wortes. So stößt die Besitzerin der Vagina Dentata im Film Teeth schon bei ihrer Recherche auf Widerstände, denn im Biologiebuch ihrer Schule ist selbst die schematische Darstellung der Vagina mit einem Sticker überklebt. „Amerikanische Prüderie und ihre Folgen“, war mein übereiltes Fazit, bis mir dieses Jahr der Dokumentarfilm Vulva 3.0 bewusst machte, dass meine eigene Gesellschaft im Umgang mit der Vulva kaum fortschrittlicher ist.

© WVG Medien GmbH

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Die Bedeutung der Mainstreammuschi

Die Vulva, Vagina, Muschi, Möse oder wie wir sie auch nennen wollen ist das primäre Geschlechtsorgan, das die biologistische zweigeschlechtliche Logik Frauen zuordnet. Im Gegensatz zu den Brüsten, die im Film gerne eine Bühne bekommen, jedoch meist dem Augenschmaus des cis-männlichen Publikums dienen, ist die Vulva als Zentrum und Ausdruck des weiblichen Sexualtriebs in der Regel tabu. Hier befindet sich die Klitoris, die auch hinsichtlich ihrer Größe einen mit dem Penis vergleichbaren Schwellkörper darstellt. Die Vorzeigemuschi jedoch, wie sie in Mainstream-Pornos zu sehen ist und wie Schönheitschirurgen sie aktuell auf der ganzen Welt als Idealbild etablieren wollen, versteckt dieses Potential: Schamlippen sind pfui, der sensible Kitzler idealerweise ebenfalls unsichtbar. Am besten Mann sieht nichts außer eines unschuldigen, Brötchen-ähnlichen Schlitzes – ein Bild, das in meinen Augen zugleich kindlich wie auch auf paradoxe Weise asexuell wirkt. Die Vagina wird also selbst dann versteckt, wenn sie gezeigt wird, beziehungsweise ihre Darstellung dient der ästhetischen Befriedigung des männlichen Blicks, nicht aber der Sichtbarmachung der weiblichen Sexualität. Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann gehen in ihrem Dokumentarfilm gar so weit anzudeuten, der Unterschied zwischen einer Labioplastik und der auch als Genitalverstümmelung bekannten genitalen Beschneidung der Frau sei nur ein definitorischer.

© Concorde

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Lars von Trier und die Vulva

Wie aber geht nun Lars von Trier bei der Darstellung der pathologischen Sexualentwicklung seiner Heldin mit der Vulva um?

Trotz explizit gedrehter Sexszenen inklusive mehrerer deutlich sichtbarer Penisse in unterschiedlichen Härtegraden, dürfen die Zuschauer_innen im Laufe des Films nur zwei Mal einen direkten Blick auf eine Vulva werfen. In den übrigen erotischen Passagen ist der Blick durch Winkel, Kleidung oder Penisse verstellt. Eine der zwei explizit präsentierten Vulven jedoch befindet sich auf einem OP Tisch – ein Setting, das wahrlich nicht als Ausdruck lustvollen Sexualerlebens gewertet werden kann. Die zweite Szene schließlich zeigt eine Möse in voller Pracht, inklusive aufklaffender Labien und Kitzler. Und nicht nur das: Die Nahaufnahme fängt sogar die orale Befriedigung der Protagonistin und somit einen einzig auf sie fokussierten Moment der Lust ein.

© Concorde

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In der geschnittenen Kinofassung wird diese Großaufnahme fehlen. Die Vulva als Symbol weiblicher Sexualität ist wohl zu aufdringlich, vielleicht zu bedrohlich für das breite Publikum. Bereits in der Festivallangfassung marginalisiert, wird dieses Organ in Nymphomaniac 1 für das Kinopublikum umso unsichtbarer bleiben. Das ist Lars von Trier schwerlich anzukreiden, hat er sich doch deutlich von der gekürzten Fassung seines Films distanziert. Vielmehr ist diese Zensur Ausdruck der von Richarz und Zimmermann dargelegten Unsichtbarmachung des weiblichen Geschlechts. Nichtsdestotrotz findet sich auch in von Triers 2 ½ stündiger Fassung des Films, der vermeintlich um die sexuelle Entwicklung einer Frau kreist, nur ein einziges Bild ihres Sexualorgans.

Geradezu absurd wirkt dieser Umstand in Anbetracht des Kinoplakats, das mit der mösealen Form des Buchstaben „O“ wirbt, während der Film dem Phallus klar Priorität einräumt. Während das männliche Glied hier ohne Frage als Objekt der Begierde eine gerechtfertigte Sichtbarmachung erfährt, gibt es in meinen Augen keinen Grund, der Vagina diese Bühne vorzuenthalten. Michael Fassbenders Penis beispielsweise hat durch den thematisch ähnlich gelagerten, aber maskulin zentrierten Film Shame, geradezu Berühmtheit erlangt. Warum also nicht mehr solcher Szenen, die uns die Lust der Nymphomanin ganz plastisch durch die Abbildung ihres Geschlechts vor Augen führen?

Sexualität ohne Sexualorgan?

Somit drängt sich mir abschließend die Frage auf, wie ein Film die sexuelle Entwicklung einer Person betrachten kann, wenn er das Organ ihrer Lust visuell negiert? Die Antwort ist meiner Meinung nach ganz einfach: Er kann es nicht. Und vielleicht will er es auch gar nicht. In Nymphomaniac 1, der offiziell einer Trilogie namens „Depression“ angehört, geht es um Vieles – Sucht, Trauma, Schuld (sowie Orgelmusik, Fliegenfischen und Botanik) – jedoch meiner Meinung nach nicht um die Sexualität einer Frau. Das Selbstmarketing Lars von Triers der vergangenen Monate hat viele erfolgreich davon abgelenkt, dass dieser Film wenn überhaupt einen ganz anderen Skandal birgt als die kleine Hand voll expliziter Sexszenen. Und dieser eigentliche Skandal besteht in meinen Augen darin, dass ein Film über eine weibliche Nymphomanin nicht in der Lage ist, dem sexuellen Lustempfinden seiner Heldin visuell Ausdruck zu verleihen.

Dieser Text ist in leicht editierter Form in der April-Ausgabe 2014 der Zeitschrift an.schläge erschienen. 

Sophie Charlotte Rieger
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