FFHH 2015: Mein Ein, mein Alles – Eine Unromanze

Mein Ein, Mein Alles – normaler Weise mache ich um Filme mit derlei Titeln einen großen Bogen, denn was soll dabei schon anderes herauskommen als die x. Geschichte von Mr. Right. Aber da ich mich ja nun mal Filmen von Frauen verschrieben habe, musste ich für Maïwenn eine Ausnahme machen. Und interessanter Weise hat Mein Ein, Mein Alles alle Vorurteile sowohl bestätigt als auch widerlegt.

Mon Roi (= mein König) lautet der französische Originaltitel, der nicht wirklich verheißungsvoller klingt als die deutsche Version, dafür aber die Geschichte auf den Punkt bringt. Der König, oder auch Mr. Right, ist Georgio (Vincent Cassel), in den sich Hauptfigur Tony (Emmanuelle Bercot) untersterblich verliebt. Zunächst passiert in Mein Ein, Mein Alles genau das, was ich befürchtet hatte: Ein überlebensgroßer Mann füllt endlich die Lücke im Leben einer Frau. Denn auch intelligente Frauen wie die erfolgreiche Staatsanwältin Tony brauchen schließlich einen männlichen Gegenpart um komplett zu sein. Oder etwa nicht? Spätestens als das ach so verliebte und perfekte Paar dann auch noch ein Kind erwartet, stellte sich bei mir der erwartete Brechreiz ein.

© Studiocanal

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Zudem erschien mir die Liebesgeschichte von Georgio und Tony absolut unglaubwürdig, weil offensichtlich viel zu konstruiert. Alles ist genauso wie es sein muss. Alles ist viel zu sehr, wie es sein muss, um tatsächlich romantisch zu sein. Genauso wie der Sex viel zu sehr so ist wie er sein muss, um tatsächliche Leidenschaft zu transportieren (wobei die Sexszenen auch stark darunter litten, dass primäre und sekundäre Geschlechtsorgane auf gerade zu lächerliche Weise krampfhaft verdeckt werden). Aber die Künstlichkeit der Inszenierung ist keine Schwäche Maïwenns. Georgio und Tony agieren viel mehr ihre eigene, überzogene Liebesgeschichte aus. Weil das eben so sein muss. Und dabei übersieht Tony, dass ihr nicht Mr. Right, sondern Narziss gegenüber steht.

Physische häusliche Gewalt ist etwas Furchtbares, aber sie hat einen „Vorteil“: sie ist sichtbar, hinterlässt Spuren. Seelische Gewalt jedoch ist selbst für die Betroffenen oft erst dann zu erkennen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Und so erweist sich auch die perfekte Liebesgeschichte von Georgio und Tony erst nach Monaten als missbräuchliches Abhängigkeitsverhältnis. Tony liebt ihren König, vergöttert ihn. Aber der König liebt nicht Tony, sondern ausschließlich die Tatsache, dass diese ihn vergöttert. So kann die klassische Täter-Opfer-Verdrehung stattfinden: Wenn Tony daran verzweifelt, dass Georgio auf Distanz geht, ständig Zeit mit seiner Ex verbringt und schließlich aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, um Raum für sich zu haben, dann ist es nicht er, sondern Tony die pathologisiert und deren „Hysterie“ mit Antidepressiva behandelt wird. Das Problem ist also nicht sein Verhalten, sondern ihre inadäquate Reaktion darauf. Mit der Absurdität dieser Verdrehung zeigt Mein Ein, Mein Alles sehr deutlich, dass der stereotyp weibliche* Hang zur Hysterie nicht im luftleeren Raum, sondern in Reaktion auf seelische Gewalt entsteht.

© Studiocanal

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Die anfängliche Romanze von Mr. Right wird also enttarnt. Stattdessen zeigt Mein Ein, mein Alles sehr deutlich die Gefahren dieser kulturellen Mär vom „einzig Richtigen“. In der Annahme, dies sei nun ihre einzige Chance auf ein Familienleben, muss Tony alles daran setzen, ihren König nicht zu verlieren. Koste es was es wolle: ihre Würde, ihr Glück, ihr Leben. Der König wiederum, für den es praktischer Weise ganz viele „Richtige“ gibt, hat somit die absolute Macht über sie.

Maïwenn erzählt diese Unromanze in der Rückschau, während Tony in einer Rehaklinik ihren Kreuzbandriss auskuriert und an die Anfänge ihrer Liebesgeschichte zurückdenkt. Dabei spiegelt die physische Abhängigkeit vom Pflegepersonal – die Unfähigkeit, sich selbst zu duschen und zu versorgen – Tonys emotionale Abhängigkeit von Georgio wider. Der Heilungsprozess ist also nicht nur ein physischer, sondern auch ein seelischer. Tony muss im wahrsten Sinne des Wortes wieder lernen auf eigenen Beinen zu stehen.

© Studiocanal

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Doch Mein Ein, Mei Alles ist kein Emanzipationsmärchen, in dem Tony wie der kleine Forrest Gump im entscheidenden Moment die Beine in die Hand nimmt und befreit davon rennt. Stattdessen vollzieht die Handlung eine sehr gemächliche und darin bedrückende Abwärtsspirale, bei der sich die Ereignisse immer wieder auf unterschiedliche Weise wiederholen. Immer wieder kehrt Tony zu Georgio zurück, immer wieder verletzt er sie zutiefst, immer wieder bricht sie zusammen. Immer mehr und mehr.

Es ließe sich hier argumentieren, dass Mein Ein, Mein Alles die weibliche Figur zu sehr in die Opferposition rücke und ihr das finale Empowerment verweigere. Ebenso aber kann ich dem Film großen Realismus zugestehen, gerade weil es hier keinen klaren Abschluss der Unromanze gibt, gerade weil Tony ihren König nie ganz als den seelischen Aggressor sehen kann, der er ist. Der Schritt aus der Abhängigkeit ist wie die Reha ein schmerzhafter und langwieriger Kampf. In einem Gespräch mit ihren Mitpatienten erfährt Tony, dass sie vielleicht nie mehr so wird laufen können wie zuvor. Etwas wird bleiben. Und wie wir an ihrem letzten Blick auf Georgio sehen, wird auch diese Unromanze niemals ganz verschwinden.

Kinostart: 24. Dezember 2015

Sophie Charlotte Rieger
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