Gabrielle

Erwachsen zu werden bedeutet unter anderem, Verantwortung für die eigenen Entscheidungen zu übernehmen und sein Leben unabhängig von Eltern oder anderen Erziehungsberechtigten zu gestalten. Das ist für jede:n ein anstrengender Prozess, doch umso schwieriger für Heranwachsende, die auf Grund einer Behinderung ständig auf andere Menschen angewiesen sind. Wie kann Unabhängigkeit erreicht werden, wenn eins nicht einmal das Objekt amouröser Begierde frei wählen darf?

© Alive

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So ergeht es Titelheldin Gabrielle (Gabrielle Marion-Rivard). Auf Grund einer Entwicklungsstörung lebt sie in einer betreuten Wohngruppe, geht jedoch arbeiten und nimmt an diversen Freizeitaktivitäten teil. Hochgradig musikalisch liebt Gabrielle ihren Chor über alles. Dort lernt sie auch Martin (Alexandre Landry) kennen und lieben. Doch dessen Mutter ist mit der Beziehung der beiden behinderten Erwachsenen nicht einverstanden und verbietet Martin den Kontakt zu seiner Freundin. Gabrielle ist am Boden zerstört. Ausgerechnet jetzt will auch noch ihre Schwester und engste Vertraute Sophie (Mélissa Désormeaux-Poulin) zu ihrem Freund nach Indien auswandern. Gabrielle versteht nicht, warum sie über ihr Leben und ihre Liebe nicht frei entscheiden darf und versucht mit allen Mitteln, ihre Unabhängigkeit zu beweisen.

So wie die Titelheldin lebt auch der Film von der Musik. Regisseurin Louise Archambault nimmt sich viel Zeit für die Gesangseinlagen, lässt den Chor ganze Stücke singen, statt nur Ausschnitte aus den Proben zu zeigen. Das Gehör spielt in ihrer Inszenierung eine besonders große Rolle. Die Verstärkung von Umweltgeräuschen lässt die Zuschauer_innen zuweilen tief in das Erleben der Hauptfigur eintauchen. In Momenten großer Erregung jedoch arbeitet Archambault mit absoluter Stille, die das Publikum den Atem anhalten lässt. Diese Irritation entsteht aus unserer Gewohnheit, dramatische Szenen auch mit dramatischer Musikuntermalung zu erleben. Doch es ist gerade das Fehlen akustischer Reize, das in diesen Momenten unsere volle Aufmerksamkeit auf die Bilder lenkt.

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Die starken und vor allem nicht durch gesellschaftliche Konventionen gefilterten Emotionen der Hauptfiguren vermögen auf eine besonders intensive Art und Weise zu berühren. Die große Begeisterungsfähigkeit Gabrielles und ihrer Chorkolleg_innen vermag auch uns anzustecken. Ebenso trifft es uns, wenn wir den Liebeskummer der Heldin erleben. Und auch die Erniedrigung, die sich aus der Bevormundung hinsichtlich ihrer Sexualität ergibt, wird uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt. Die Liebe zwischen Gabrielle und Martin ist keine Privatsache. Sie wird mit Eltern und Betreuern und über die Köpfe der Liebenden hinweg diskutiert.

Doch Louise Archambault unterteilt nicht in Opfer und Täter:innen. Die Frage, ob Gabrielle unabhängig leben kann, ist nicht so einfach zu beantworten, und der Verlauf der Geschichte trägt der Komplexität ihrer Situation Rechnung. Wir sehen nicht nur die Wünsche und Bedürfnisse der Hauptfigur, sondern durchaus auch ihre Schwierigkeiten, die kleinen Probleme des Alltags zu bewältigen. Es ist an uns, eine eigene Position zu finden.

Am Ende macht es sich Louise Archambault bedauerlich einfach und bringt die Liebesgeschichte zu einem übermäßig kitschigen Ende, das die eigentliche Problematik, die Frage nach der Möglichkeit von Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit Gabrielles, vollends unter den Tisch fallen lässt. Die Liebesgeschichte wird schließlich über die Abnabelung der Heldin gestellt. Auf den ersten Blick scheint das der Protagonistin und ihrem Streben nach Selbstständigkeit Unrecht zu tun. Dann aber wieder ist es tatsächlich die Liebe, die für Gabrielle an erster Stelle steht. In ihrer ganz eigenen Logik ist eine eigene Wohnung untrennbar mit einem Leben mit Martin verknüpft. Das eine existiert nicht ohne das andere. Vielleicht müssen wir uns einfach damit abfinden, dass der Ausgang der Geschichte – obwohl für uns vielleicht unbefriedigend – Gabrielles perfektes Happy Ending darstellt.

Sophie Charlotte Rieger
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