Kritik: Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern

Schon der Titel von Stina Werenfels’ Film Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern ist irritierend, scheint es in der Geschichte auf den ersten Blick doch um die sexuelle Entwicklung einer jungen Frau mit Behinderung zu gehen. Auf den zweiten Blick aber wird deutlich, dass der Film das Spannungsverhältnis zwischen Menschen mit Behinderung und ihrem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld in den Blick nimmt. Werfenfels’ Film beleuchtet beide Seiten: Dora und ihre Eltern. Und beide Parteien haben eben ihre ganz eigenen „sexuellen Neurosen“.

© Alamode

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Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern ist ein Film, der seine Zuschauer_innen dazu zwingt, sich mit dem Inhalt auseinanderzusetzen. Werenfels balanciert permanent auf einem schmalen moralischen Grat und es obliegt dem Publikum zu entscheiden, ob sie dabei in die eine oder andere Richtung kippt. Denn Dora entdeckt ihre Sexualität nicht durch eine zärtliche, alleinig durch sie gesteuerte Begegnung – wie dies Beispielsweise in Christina Schiewes Grimme-nominiertem Werk Be My Baby der Fall ist – sondern gerät in eine Situation, die nur sehr schwer einzuordnen ist. Wenn sie Peter (Lars Eidinger) in eine Bahnhofstoilette folgt, um ihm einen Granatapfel zu schenken, so ist sie sich der Konsequenzen dieser Handlung keinesfalls bewusst. Peter nutzt die Naivität seines Gegenübers aus, doch berichtet Dora nachher mit leuchtenden Augen von jenem Ereignis, dass ihre Mutter als Vergewaltigung beschreibt. Schnell wird deutlich, dass der Missbrauch von Dora nicht als solcher empfunden wird, da sie Peter weiterhin zu gemeinsamen Schäferstündchen trifft und schließlich von ihm schwanger wird.

Es geht in Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern also nicht nur um das Tabuthema „Sexualität und Behinderung“, sondern auch das Tabuthema „Elternschaft und Behinderung“. Bei derart großen und schwierigen Fragen ist die ambivalente Beziehung zwischen Dora und Peter bedauerlicher Weise ein Stolperstein. Die Zuschauer_innen müssen zu viele Fragen beantworten. Es geht nicht darum zu entscheiden, wie viel sexuelle Selbstbestimmung wir einem Menschen mit Behinderung zugestehen wollen oder können und ob wir ihm oder ihr zutrauen, ein Kind zu versorgen. Wir müssen auch ein Urteil über Peter fällen, was in Anbetracht von Doras anhaltender Begeisterung für die gemeinsamen sexuellen Begegnungen äußerst schwer fällt.

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Bild aus „Be My Baby“ © ZDF

Es ist schlichtweg nicht möglich, Dora und die sexuellen Neurosen unserer Eltern ohne einen Blick auf Be My Baby zu betrachten. Christina Schiewe wählt für ihre inhaltlich ähnlich gelagerte Erzählung eine ganz andere, deutlich linearere und naivere Form, die ihren Film auch einem Publikum mit Behinderung zugänglich macht. Stina Werenfels jedoch adressiert eindeutig ein nicht-behindertes Publikum. Auch wenn sie uns durch verschwommene Bilder und Close-Ups immer wieder in die Erfahrungswelt ihrer Hauptfigur hineinnimmt, bleibt ihr Blick letztlich ein Vertikaler – von oben herab. By My Baby hingegen arbeitet schon allein durch Hauptdarstellerin Carina Kühne mit einer deutlich horizontaleren Perspektive. Da sich dieser Film nicht mit der Frage einer Vergewaltigung oder Fremdbestimmung der weiblichen Heldin auseinandersetzt, wirkt die Sexualität von Menschen mit Behinderung hier positiver Weise viel selbstverständlicher.

Dora und die sexuellen Neurosen unserer Eltern hingegen eröffnet ein Problemfeld, dass die Frage, inwiefern Dora über ihre Sexualität selbst entscheiden kann ohne Opfer eines Missbrauchs zu werden, zu stark in den Vordergrund rückt. Statt ihre Selbstbestimmung zu betonen, zieht sie sie also in Zweifel. Statt den Fokus auf Doras immens natürliches Liebesvermögen zu setzen und ihre Abnabelung von Elternhaus und gesellschaftlichen Restriktionen zu befürworten, stellt der Film all jenes erst einmal in Frage.

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Ein weiterer Wermutstropfen besteht in der Figur der Mutter Kristin (Jenny Schily). Gerade selbst mit einer künstlichen Befruchtung beschäftigt, erzeugt die Schwangerschaft ihrer Tochter bei ihr nicht nur Angst, sondern auch Aggression. Wieder einmal ist es die Frau, die von ihren Emotionen überrannt wird, während der Mann, Vater Felix (Urs Jucker), stets besonnen und vorbildhaft agiert. Gefangen in ihrer eigenen Sexualität braucht Kristin schließlich eine Partypille, um einen Moment der Entgrenzung und Wollust zu erleben – vielleicht vergleichbar mit der natürlichen sexuellen Freiheit ihrer Tochter. Doch in beiden Fällen kommt der sexuelle Impuls von außen: Dora wird von Peter sexuell missbraucht, oder doch zumindest verführt, und Kristin erhält die aphrodisierende Pille von einem männlichen Bekannten. Als wäre die Frau nicht in der Lage, aktive Sexualität aus sich selbst heraus zu produzieren.

Hauptdarstellerin Victoria Schulz ist in der Rolle der geistig behinderten Dora atemberaubend, auch wenn die Illusion stets als solche sichtbar bleibt. Weshalb sich Stina Werenfels nicht für eine Schauspielerin mit Behinderung entschieden hat, wird spätestens mit den expliziten Sexszenen – insbesondere in jenen, die mit Gewalt und Missbrauch verbunden sind – deutlich. Doch drängt sich hier die Frage auf, ob diese Darstellungen denn überhaupt nötig sind!

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Trotz oder vielleicht gar wegen der vielen Zweifel bleibt Dora und die sexuellen Neurosen unserer Eltern ein sehr eindrücklicher Film, weil man_frau sich den aufgeworfenen Fragen einfach nicht entziehen kann. Stina Werenfels ruft mit ihrer Inszenierung verschiedenste Emotionen von Freude über Trauer bis hin zu Wut hervor, aber kalt lässt uns diese Geschichte auf keinen Fall.

Kinostart: 21. Mai 2015

Sophie Charlotte Rieger
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