Heidi – Eine queerfeministische Heldin

Das schöne an einem Film wie Heidi ist, dass ich ganz frei darüber schreiben kann, ohne jemandem die Geschichte zu verderben, denn wir kennen sie ohnehin alle. Oder kann irgendwer nicht die Titelmelodie der Serie von Hayao Miyasaki mitsingen? Heidi, Heidi, deine Welt sind die Be-erge!

Und nun ist sie wieder da: Unter der Regie von Alain Gsponer (Das kleine Gespenst) ist eine weitere Spielfilmversion der Romane von Johanna Spyri entstanden, mit Bruno Ganz als Almöhi und einer herausragenden Hauptdarstellerin. Anuk Steffen widerlegt alle Vorurteile gegenüber deutschen Kinderdarsteller_innen… dann aber wieder ist sie Schweizerin. Aber Schwamm drüber. Hier soll es nämlich nicht um Anuk, sondern um Heidi gehen. Mit den Augen einer erwachsenen Frau und Feministin sehe ich die bekannte Geschichte nämlich plötzlich ganz anders. Und bin begeistert.

© Studiocanal

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In Gsponers Version ist Heidi ein Wildfang, ja ein Tomboy geradezu, der Jungsklamotten trägt und Jungssachen macht (leider sind im Pressematerial nur Bilder von Heidi im Kleid enthalten – warum auch immer). Oder besser gesagt: Heidi ist von ganzem Herzen queer, denn ob etwas für Jungen oder für Mädchen ist, interessiert sie nicht die Bohne. Aber Heidi transzendiert nicht nur Geschlechterkategorien, sondern sämtliche Einordnungen, die die Gesellschaft vornimmt.

Heidi will frei sein, frei von gesellschaftlichen Zwängen. Gleich zu Beginn reißt sie sich das niedliche Kleid vom Leib und rennt im Unterhemd über die Wiesen – ein Motiv, das wir im letzten Drittel des Films erneut sehen werden. Heidi befreit sich damit nicht nur von einer in diesem Kontext unpassenden und unpraktischen Kleidung, sie befreit sich auch von den damit verbundenen gesellschaftlichen Kategorien. Sie befreit sich von einem Mädchen*- bzw. Frauen*bild und von einer Klassenzuordnung. Und es ist diese Freiheit, um die Heidi kämpft. Und es ist dieser Kampf, um den die Geschichte kreist.

© Studiocanal

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Umso qualvoller ist Heidis „Adoption“ durch die wohlhabende Familie Sesemann. Das kleine Mädchen wird von der eigenen Tante verkauft und damit zum Objekt, zur Ware degradiert. Doch nicht nur das: Das bürgerliche städtische Umfeld Frankfurts will Heidi in all jene Schubladen pressen, von denen sie sich auf der Alm erfolgreich befreit hatte. Sie muss feine Kleider tragen und sich an strenge Benimmregeln halten, was ihr zum Ärger der Gouvernante (Katharina Schüttler) in der Regel aber nicht gelingt.

Immerhin erlernt Heidi das Lesen und Schreiben, Fähigkeiten, die ihr der Almöhi vorenthalten hatte. Auch ihr bester Freund der Geissenpeter (Quirin Agrippi) war der Meinung, das Schrift auf der Alm vollkommen unnötig sei. Aber Heidis Wunsch, wie Peter zur Schule zu gehen, ist ein emanzipatorischer Akt, bei dem es nicht nur um Gleichberechtigung gegenüber dem männlichen* Spielgefährten, sondern auch um den Zugang zu Bildung geht.

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Das Gegenstück zur wilden und freien Heidi ist ihre Frankfurter Freundin Clara (Isabelle Ottmann), die auf Grund ihrer Gehbehinderung auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Clara ist so unfrei, wie ein Mensch nur sein kann. Nicht nur die strenge Erziehung durch die Gouvernante schränkt ihre Entfaltung ein, es ist ihr auch unmöglich das Haus zu verlassen und eigene, selbstbestimmte Wege zu gehen. Ihre Heilung am Ende der Geschichte ist daher weniger ein übertrieben kitschiger Moment als viel mehr ein emanzipatorisches Wunder: Beim Besuch auf der Alm von den Zwängen der bürgerlichen Gesellschaft befreit, kann Clara endlich eigene Schritte tun.

Auch Heidis Happy End ist ein queerfeministischer Sieg, denn es gelingt ihr, beide Welten – Stadt und Land – miteinander zu verbinden. Heidi muss sich nicht für eine Rolle entscheiden. Sie darf ein freier, naturverbundener Mensch bleiben, weiterhin Jungs*kleidung tragen und gleichzeitig die Vorzüge des Bürgertums genießen, also Bildung erlangen, ja gar zur Autorin ihrer eigenen Geschichte werden. Heidi gibt sich nicht damit zu frieden, nur das eine oder das andere zu bekommen. Heidi will alles. Und das ist gut so. Die Geschichte gibt ihr Recht!

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Die Geschichte von Heidi ist die Geschichte eines Mädchens*, das lernt, seinen eigen Weg zu gehen. Mehrfach rät ihr Großmutter Sesemann (Hannelore Hoger), nicht auf die Urteile anderer Menschen zu hören, sondern sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Zudem ermutigt sie Heidi trotz des Spottes ihrer Klassenkamerad_innen, das Berufsziel der Schriftstellerin zu verfolgen. Somit ist Heidi, zumindest in der Version, die wir demnächst im Kino sehen können, eine zutiefst emanzipatorisch wertvolle Geschichte.

Kinostart: 10. Dezember 2015

Sophie Charlotte Rieger
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